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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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nicht freigelassen werden.
    »Er ist schon in Gewahrsam«, sagte Martha, »und es ist beschlossene Sache, was an ihm getan wird.«
    Jetzt sahen sie mich beide an, ängstlich, das Wort zu sagen, das noch nicht ausgesprochen worden war.
    »Du meinst, er wird gekreuzigt werden?«, fragte ich.
    »Ja«, sagte Martha. »Ja.«
    Und dann sprach Maria: »Doch das wird der Anfang sein.«
    »Wovon?«, fragte ich.
    »Eines neuen Lebens für die Welt«, sagte sie.
    Martha und ich beachteten sie nicht.
    »Kann man denn irgendetwas machen?«, fragte ich Martha.
    Jetzt erschienen sie beide ratlos, und Martha nickte in die Richtung des Zimmers, in dem Lazarus lag.
    »Frag meinen Bruder. Meine Schwester hat recht. Wir nähern uns dem Ende der Welt«, sagte sie. »Oder die Welt, wie wir sie kennen, nähert sich ihrem Ende. Es kann alles geschehen. Du musst nach Jerusalem gehen.«
    *
    Wir fanden Logis in der Stadt. Ich fand es seltsam, wenn ich an Menschen vorbeiging, einen nach dem anderen, oder Gruppen von Leuten sah, mit denen ich niemals sprechen würde, die ich niemals kennenlernen würde, dass wir alle gleich aussahen, oder gleich erschienen, uns auf derselben Erde bewegten und dieselbe Sprache sprachen, und dennoch jetzt nichts gemeinsam hatten. Nicht einer von ihnen wusste, was ich empfand, oder hatte überhaupt etwas mit mir gemein. Sie standen ganz für sich und sahen fremd aus. Ich fand es erstaunlich, dass ich eine Bürde trug, die nicht auf Anhieb erkennbar war, dass ich jedem, den ich sah und nicht kannte, ganz gewöhnlich erscheinen musste, dass alle Sorgen in mir eingeschlossen blieben.
    Ich begriff, dass wir in einem Haus logierten, das voll von seinen Anhängern war – denjenigen von ihnen, die nicht festgenommen worden waren –, dass man Maria gesagt hatte, mich hierherzubringen, und sie versicherte mir, dass man mich beschützen würde, dass das Haus sicher war, auch wenn es nicht so aussah. Ich fragte mich, woher sie das wusste, und sie lächelte und sagte, dass man später Zeugen brauchen würde.
    »Wer, ›man‹?«, fragte ich. »Wozu?«
    »Frag nicht«, sagte sie. »Du musst mir vertrauen.«
    An unserem ersten Abend wurde die Tür von einem von denen abgeschlossen, die Jahre zuvor zu unserem Haus in Nazareth gekommen waren, er musterte mich kalt und argwöhnisch.
    Mein Sohn war schon in Gewahrsam, ein richtiger Gefangener. Er hatte zugelassen, dass man ihn festnahm, und in diesem Haus schienen während der Stunden, die ich mit seinen Anhängern verbrachte, alle zu meinen, dass dies geplant gewesen und Teil der großen Erlösung war, die in der Welt geschehen würde. Ich wollte sie fragen, ob diese Erlösung bedeutete, dass er dann nicht gekreuzigt, dass er freigelassen werden würde, aber sie alle, einschließlich Maria, sprachen in einem Wirrwarr von Rätseln. Ich wusste, dass keine Frage eine klare Antwort entlockt hätte. Ich war wieder in der Welt der Narren, Zitterer, Unzufriedenen, Stotterer, jetzt allesamt hysterisch und vor Aufregung schon fast atemlos, noch ehe sie zum Sprechen ansetzten. Und innerhalb dieser Gruppe von Männern, erkannte ich, bestanden feste Hierarchien: Es gab etwa Männer, die redeten und denen man zuhörte, oder deren Erscheinen alles verstummen ließ, oder die sich an den Kopf des Tisches setzten, oder die sich für berechtigt hielten, mich und meine Gefährtin zu ignorieren, und die Essen von den Frauen forderten, die ins Zimmer hinein- und hinaushuschten wie geduckte, gehorsame Tiere.
    *
    Am nächsten Tag verließen wir alle das Haus. Einem der Männer – dem, der noch immer hierherkommt – wurde die Aufsicht über Maria und mich übertragen. Er befahl uns, immer bei ihm zu bleiben und mit niemandem zu sprechen. Wir gingen durch die engen Straßen in den Morgen hinaus, bis wir zu einem weiten offenen Platz voller Menschen kamen.
    »Alle diese Leute«, erklärte mir unser Aufseher, »stehen im Sold des Tempels. Sie alle sind hier, um im richtigen Augenblick lautstark die Freilassung des Diebes zu fordern. Pilatus weiß das, der Tempel weiß, dass sie damit durchkommen werden, und es ist sogar möglich, dass auch der Dieb informiert worden ist. Es ist der Beginn unserer Erlösung, die große neue Morgenröte für die Welt. Es ist so vorgezeichnet, wie das Meer und das Land in ihren Grenzen vorgezeichnet sind.«
    Noch ehe er zu sprechen aufhörte, war ich vom Laufen müde, tat mir einer meiner Schuhe weh. Als ich die Augen schloss und zuhörte, merkte ich, dass etwas mit seiner

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