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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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zurückbehalten habe. Und dann erhob sich ein gewaltiger Jubel, und alle Festgäste begannen zu applaudieren.
    Niemand bemerkte, dass ich nicht jubelte. Aber in dem Lärm ringsum wurde ich mit einbezogen, als hätte meine Anwesenheit dabei mitgeholfen, Wasser in Wein zu verwandeln. Sobald die Lärmwelle abgeebbt war und die meisten Leute zu ihren Plätzen zurückgekehrt waren, entschied ich, dass ich es noch ein Mal versuchen würde. Ich wiederholte, was ich zuvor gesagt hatte, versuchte diesmal aber eine größere Dringlichkeit in meine Worte zu legen. »Du bist in großer Gefahr«, begann ich, erkannte aber sofort, dass es keinen Zweck hatte. Ohne nachzudenken stand ich auf, und mit einem Lächeln, als wäre mein Aufbruch ohne Bedeutung und als würde ich gleich wiederkommen, verließ ich das Fest und ging zu Mirjams Haus zurück. Ich nahm meine Sachen und machte mich auf den Weg zurück nach Nazareth.
    Dabei dachte ich, schlimmer könne es wirklich nicht mehr kommen, denn als ich mich dort hinbegab, wo ich zur Gesellschaft der Rückreisenden stoßen sollte, lag der Ort verlassen. Es gab niemanden, den ich hätte fragen können, und nichts, um mich unterzustellen. Es war der einzige Treffpunkt, der mir bekannt war, und ich wartete, obwohl die Sonne heiß war. Nach einer Weile suchte ich Schatten unter einem kleinen mageren Baum und wartete dort, aber der Schatten nützte mir nichts mehr, als der Regen kam. Der Himmel war so blau gewesen, der Tag so heiß; der Wechsel war unvermittelt und allumfassend. Der Regen prasselte herab, und der Wind pfiff. Es gab keinen Unterschlupf. Ich tat, was ich konnte. Ich zog mir etwas über den Kopf und kauerte mich unter den Baum. Ich wartete, und langsam begannen sich andere einzufinden, obwohl der Regen nicht nachließ und es donnerte. Sie sagten, dass eine Reisegesellschaft kommen werde und dass es keinen anderen Warteplatz gebe. Ich blieb dort, vom Regen durchnässt, weil ich keine andere Wahl hatte. Ich wusste, dass ich in meiner Tasche trockene Sachen hatte, und hoffte, sie anziehen zu können, wenn der Regen nachließ. Ich musste die ganze Nacht warten. Es gab einen Mann, der Essen verkaufte, so brauchte ich nicht zu hungern. Allmählich klarte es auf, und ich zog mich um, und ich muss eine Zeitlang geschlafen haben und wurde von Geräuschen geweckt, den Geräuschen von Tieren und den Stimmen anderer Reisender, und wir brachen dann in der Stunde vor dem Morgengrauen auf. Ich wusste zwar nicht, was ich tun würde, wenn ich zu Hause angekommen wäre, aber als wir aufbrachen, schien mir, dass ich keine andere Wahl hätte. Doch sie war immer da, sie war von dem Augenblick an da, als ich vom Tisch aufstand – die Möglichkeit umzukehren.
    Während wir uns von dem Ort entfernten, stellte ich mir Alternativen vor: die anderen zu bitten, anzuhalten und auf die nächste Gesellschaft zu warten, die kommen und mich dorthin, von wo ich geflohen war, zurückbringen würde. Wozu? Um was zu tun? Vielleicht um da zu sein, sodass ich sehen könnte, was andere gerade sahen. Vielleicht um in der Nähe zu bleiben, falls sie mir erlauben würden, in der Nähe zu bleiben. Nicht um Fragen zu stellen. Um zu beobachten. Um Bescheid zu wissen. Ich belegte das damals noch nicht mit Worten. Aber ich ließ es an mich herankommen, während wir uns entfernten. Wir waren schon eine Weile unterwegs gewesen, als ich erkannte, dass ich zu einer Entscheidung kommen musste. Während einer Rast sah ich in der Ferne eine Reisegesellschaft näher kommen, die mich hätte zurückbringen können, und ich beschloss, dass ich sie nicht ansprechen würde. Ich würde die Heimreise, die ich begonnen hatte, zu Ende führen.
    *
    Ich dachte, dass es nach meiner Rückkehr ruhig sein und ich ungestört bleiben würde. Soweit es mir möglich war, verbannte ich das, was ich gesehen und gehört hatte, aus meinen Gedanken. Ich verbrachte beschauliche Tage, ich betete jeden Morgen, so wie ich es immer gemacht hatte, ich ging einmal am Tag aus dem Haus, um Wasser zu schöpfen und die Tiere zu füttern und mich um den Gemüsegarten und die Bäume zu kümmern, und ich ging alle paar Tage noch ein Stück weiter, um so viel Anmach- und Brennholz zu sammeln, wie ich nötig hatte. Aber viel brauchte ich nicht. Solange es hell war, saß ich allein in den schattigen Räumen des Hauses. Ich empfing keine Besucher. Ich reagierte nicht einmal, als drei der Alten von der Synagoge kamen und mehrmals meinen Namen riefen und dazu laut gegen die

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