Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
„introvertierter“ – wie Bérenger sich auszudrücken pflegt. Er starb so einsilbig, wie er die letzten Jahre an Mutters Seite verbracht hat. Etwas in ihr jedoch weigerte sich, seinen Tod zur Kenntnis zu nehmen. Mit wem sollte sie zukünftig schelten? Beständig schickte sie ihn in ihrer Verwirrtheit hierhin und dorthin, schimpfte und tobte, weil er sich schon wieder irgendwo verkrochen hatte, der faule Kerl. All meine Bitten, mein gutes Zureden, zuletzt meine Drohungen, sie nicht mehr zu besuchen, fruchteten nicht. Ich war verzweifelt und wusste bald nicht mehr, was ich mit ihr anfangen sollte.
Irgendwann hatte Henriette die Not nicht mehr mit ansehen können. Sie übernahm die Regie in Émilies Häuschen. Und zu unser aller Verwunderung respektierte Mutter Henriette voll und ganz. Sie wurde folgsam wie ein kleines Kind, ließ sich willig von ihr waschen und füttern. Es dauerte aber noch fast ein Jahr, bis Mutter ihrem „Alten“, wie sie Vater immer abfällig genannt hatte, nachfolgte.
Zur Beerdigung der Mutter ist Barthélémy nicht gekommen. Er wäre leider unabkömmlich, hatte er geschrieben.
Vor ein paar Tagen nun, erhielt ich einen weiteren Brief von ihm. Auch ihm ging es schlecht, allerdings auf eine andere Art als mir. Juliette klage den ganzen Tag, schrieb er, dass sie so eingeschränkt leben müssten, besonders seit sie gesehen habe, in welchem Luxus ich in Rennes lebe. Aber was solle er tun, wenn die Geschäfte so rückläufig seien. Der Schwiegervater habe sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt, seinen Anteil herausgezogen, mit Aktien spekuliert und bald darauf alles verloren. Der Alte sei furchtbar senil geworden und könne – oder wolle - nicht verstehen, dass die Zeiten sich geändert hätten. Die Leute wollten sich nur noch amüsieren, sie lassen sich umherkutschieren, rennen ins Vaudeville oder in die Operette, statt zu lesen. Er, mein Bruder, habe einen beträchtlichen Kredit aufnehmen müssen, der ihm jetzt große Sorgen bereite.
„Liebe Marie!“ stand da – und zwischen den Zeilen konnte ich lesen, dass sie ihm mehr als schwergefallen sind - „ Oft muss ich an die herrlichen Tage damals, bei euch in Rennes-les-Château denken, obwohl nun bereits sieben Jahre vergangen sind. Dein großherziges Geschenk für unsere Kleine – das Medaillon – wird hoch in Ehren gehalten, und natürlich auch all die anderen schönen Geschenke, die du ihr in den Jahren darauf geschickt hast.
Liebe Schwester, versteh mich bitte nicht falsch! Ich weiß gar nicht, wie sich deine Verhältnisse im Augenblick gestalten. Aber ich bin wirklich in äußerster Not. Die Zinsen fressen mich auf. Ich kann sie schon bald nicht mehr aufbringen und erst recht nicht die Schulden tilgen. Die Gerichtsvollzieher haben mir eine letzte Frist von drei Monaten eingeräumt, dann kommt das Geschäft endgültig unter den Hammer. Juliette jammert und jammert, ich solle endlich etwas unternehmen, diese Blamage und so weiter. Du kennst sie ja, Marie. Und die Kleine, sie wird bald heiraten. Ein junger Mann aus gutem Hause hat um ihre Hand angehalten. Aber wie soll ich ihre Aussteuer finanzieren, wie ihre Mitgift. Die Familie L`Espineaux erwartet so einiges. Mit der Wäsche wäre es kein großes Problem, meine Frau hat genug von allem im Schrank, doch leider stimmt das Monogramm nicht überein, und Juliette ist solche Weißnäharbeiten nicht gewohnt, aber eine Schneiderin können wir uns zur Zeit nicht leisten. Marie, ich bin so gut wie am Ende.“
Ich zeigte Bérenger den Brief. Nun müsse ich doch für einige Zeit nach Lyon fahren, um dort meinen Schmuck zu verkaufen und meinen Bruder ein wenig von seinen Sorgen zu entlasten. Ob ich ihn allein lassen könne?
„Ja, Marie, ich denke dein Bruder übertreibt seine Lage nicht“, antwortete mir Bérenger. „Die politische Situation in unserem Land ist angespannter denn je, und viele Menschen haben immer weniger Geld in ihren Taschen. Auch nach Lyon werden Leute aus Italien und Spanien eingewandert sein, weil sie Arbeit suchen. Die Arbeiter kaufen aber keine Bücher. Sie könnten sie auch gar nicht lesen, denn sie sind des Französischen nicht mächtig. Wie man so hört, hausen sie zusammengepfercht in düsteren Quartieren und sind eigentlich nur froh, wenn sie nicht hungern müssen. Aber sag, Marie, weshalb willst du deinen schönen alten Schmuck verkaufen, um deinem Bruder zu helfen? Wir haben doch genug Geld auf den Konten, um zehn exklusive Buchläden in Lyon aufzukaufen. Du
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