Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
weisen. Doch rasch wurde der Vorhang wieder zugezogen. Weiter vorne jedoch, da bewegte sich etwas! Eine alte Frau arbeitete in ihrem Gemüsegarten. Sie hatte sich entschlossen über das Zwiebelstopfen gemacht.
„Madame“, rief ich ein wenig zaghaft beim Herannahen. „Könnten Sie mir wohl den Weg zur Kirche und zum Pfarrhaus zeigen?“
Mühsam rappelte sich die Alte hoch.
„Na, du stehst doch direkt davor, Mädchen!“ sagte sie freundlich. Mit der Rechten wies sie über ihre Schulter. „Da steht die Kirche, und gleich daneben findest du das Pfarrhaus!“
Ich schluckte. Das sollte die Kirche sein, diese kleine halb zerfallene Scheune? Der Turm kaum höher als das Gebäude selbst? Und das Pfarrhaus! – Also das Armenhaus in Couiza war seinerzeit in einem weit besseren Zustand als diese alte, windschiefe Hütte. Warum hatte mir Abbé Boudet davon nichts erzählt?
Die alte Frau musste mir meinen Schrecken angesehen haben, denn sie kam auf mich zu.
„Ich, ich“, stotterte ich ein wenig nervös, „ich heiße Marie Dénarnaud und bin die neue Haushälterin für den Abbé Saunière. Heute soll ich meinen Dienst antreten.“
„Ach, du liebe Zeit, Mädchen, du tust mir leid! So ein junges Ding, guter Gott. Komm erst einmal herein zu mir. Der Abbé ist nach Carcassonne gefahren und kommt vor dem späten Abend nicht zurück. Du wirst sicher hungrig sein.“
Dankbar und nicht wenig verwirrt, nahm ich ihr Angebot an. Sie zog ihre lehmverklumpten Schuhe aus, schlüpfte in Strohsandalen und zeigte mir, wo ich meinen Korb abstellen konnte. Anschließend führte sie mich in eine kleine Stube, in der es blitzsauber war. Das Kanapee zierte eine weiße Decke, die über und über mit Narzissen bestickt war. Eine blaue Emaillekanne, gefüllt mit Forsythien, stand auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers. Als ich meinen Hut abgenommen und mich auf einen der alten geschnitzten Stühle gesetzt hatte, schlug eine Standuhr gerade zwölf.
„Hab eine kleine Weile Geduld, Mädchen!“ rief die Frau, während sie die Stube verließ. Ich streckte meine müden Beine aus. Ein Sonnenstrahl fiel zum Fenster herein, und Hunderte kleiner Staubkörnchen tanzten darauf auf und ab. Es dauerte nicht lange, und die Frau kam wieder, in den Händen einen schwarzen gusseisernen Topf. Nun wusste ich, woher der verführerische Geruch gekommen war: Ihre Knoblauchsuppe duftete einfach unwiderstehlich!
Aus einer Anrichte holte sie zwei Suppenteller. Zu meiner Überraschung waren sie nicht nur goldgerandet, sondern auf ihrem Grund waren obendrein Fabelszenen abgebildet. Augenblicklich erkannte ich auf meinem Teller die Geschichte vom Fuchs und dem Lamm. Unser Schulmeister hatte sie uns eines Tages vorgelesen. Als sie meine Bewunderung bemerkte, zeigte mir die Frau stolz die übrigen Teller. So etwas Schönes hatte ich noch nie in den Händen gehabt. Die Alte konnte nicht gerade unvermögend sein, wenn sie es gewohnt war, mitten unter der Woche solches Geschirr auf den Tisch zu stellen, denn dass sie es mir zu Ehren tat, wollte ich nicht glauben. Jetzt legte sie sogar silbernes Besteck auf, das fein säuberlich in einer versteckten Schublade unterhalb der schweren Eichentischplatte einsortiert war. Nachdem sie meinen Teller bis zum Rand mit Suppe gefüllt hatte, schob sie ihn mir zu und bediente sich dann erst selbst.
„Du musst nicht allzu traurig sein, Kleine“, sagte sie und tunkte Brot in die Brühe. “Abbé Saunière selbst ist es auch nicht besser ergangen, als er hier seinen Dienst antrat. Der Schreck über die heruntergekommenen Gebäude stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wir von Rennes können aber nichts dafür, dass alles so verwahrlost ist, das haben wir ihm deutlich gesagt! Sein Vorgänger, der alte Abbé Pons, war schuld. Ein Sonderling, ein Einzelgänger, einer, der niemanden Hand anlegen ließ an die Kirche und das Pfarrhaus! Der Alte hat die Messe gelesen, wenn es an der Zeit war, und dann die Leute hinausgescheucht wie die Hühner, nur um wieder mit sich und seinem Herrgott allein zu sein. Deshalb ist alles so verkommen!“
Ich schüttelte entsetzt den Kopf.
„Jawohl, du kannst es mir ruhig glauben. Wir haben Briefe nach Carcassonne, ja gar nach Rom geschrieben! Aber es hat nichts gefruchtet. Auch der Bischof war ratlos. Pons jedoch war es egal. Er hat gehaust wie ein Lump, dort drüben. Ja, wie ein Lump, auch wenn er ein Priester war!“
In echter Verzweiflung hob die Alte die Arme.
„Es wurde viel getuschelt um ihn –
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