Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
brauchst mir auch keine Rechenschaft darüber abzulegen. Überweise ihm einfach soviel Geld, wie er benötigt, und lass die Pretiosen dort, wo sie sich befinden, nämlich in deinen Schmuckkassetten.“
„Nein!“ sagte ich entschlossen. „Den Schmuck hast du mir zu einer Zeit geschenkt, in der du in mich verliebt warst. Er kam von Herzen und gehört mir daher wirklich. Das Geld auf den Konten jedoch hast du dort nur deponiert, damit es nicht auffällt, dass du immens reich bist. Es gehört in Wirklichkeit dir – und ich werde es daher nicht anrühren! Basta.“
Bérenger reagierte unwirsch, wie immer, wenn ich eine Wahrheit ausgesprochen hatte, die ihm unangenehm war.
„Du hast wirklich einen einzigartigen Dickschädel, Marie! Tu, was du willst, meinethalben bleib den ganzen Sommer dort. Sag Henriette Bescheid, wenn du fährst. Vor Allerheiligen solltest du allerdings wieder hier sein. Eine Woche darauf erwarte ich vielleicht Gäste, und da wirst du gebraucht.“
Nicht mit einem Wort hatte er versucht, wenigstens den Anschein zu erwecken, dass ich Unrecht habe, dass er noch in mich verliebt wäre. Er rief nach Antoine, ließ anspannen und fuhr den Berg hinunter.
Gäste also, nach Allerheiligen. Was in aller Welt gab es in dieser Situation zu feiern?
Am Morgen meiner Abreise fand ich auf meiner tags zuvor gepackten Reisetasche drei schwere Goldbarren liegen und daneben einen kleinen Umschlag. Ich riss ihn auf und als ich begann, Bérengers Zeilen zu lesen, freute ich mich über alle Maßen:
„Liebe Marie! Ich musste mitten in der Nacht noch einmal nach Rennes-le-Bains zu einem Sterbenden. Jetzt darf ich mich auch noch um Boudets Gemeinde kümmern, weil sein Vertreter schwer erkrankt ist. Ich wünsche Dir eine gute Reise. Vielleicht überlegst Du es Dir noch einmal mit dem Schmuck. Ich denke mir, dass das Gold Deinen Bruder und seine Familie ganz sicher retten wird. Komm bald wieder! In Liebe, Dein B.“
Wahrhaftig, er hatte geschrieben „in Liebe“.
Ich nahm den Schmuck aus der Reisetasche und verwahrte ihn wieder in meiner Schatulle.
Es wunderte mich, dass mich Barthélémy nicht vom Bahnhof abholte. War es möglich, dass er meine Depesche nicht rechtzeitig erhalten hatte? Ungemütlich und ziemlich windig war es auf dem Perron. Nasskalte Böen peitschten mir um die Röcke und wirbelten zugleich einen Packen Reklamezettel in die Luft, den ein Reisender auf seinen Koffer gelegt hatte. Die Zettel segelten lustig an den Abteilfenstern des wartenden Zuges entlang, um wenig später zwischen den Waggons zu Boden zu sinken. Einer flog mir direkt vor die Füße.
„Weltuntergang?“ stand in fetten Lettern darauf. Es ging um das große Erdbeben im letzten Jahr, das San Francisco zerstört hatte, und um den Ausbruch des Vesuvs im gleichen Monat.
„Sorgen Sie vor und kaufen Sie ...“
Ich las nicht weiter. Es interessierte mich nicht sonderlich, durch wen oder was die Welt zu retten sei, mein persönliches Schreckensgericht hatte ich schon hinter mir.
In einer Gruppe stand ein halbes Dutzend junger Bauernburschen beieinander, die aufgeregt diskutierten. Mit einer Hand gestikulierten sie, mit der anderen hielten sie ihre Mützen fest. Aus den Wortfetzen, die der Wind zu mir hertrug, entnahm ich, dass sie in der Stadt Arbeit und Brot finden wollten. Ein Dach über dem Kopf hatten sie noch keines.
Plötzlich fing es noch heftiger zu regnen an. Ich blickte mich nach einem Gepäckträger um, damit er mir die Tasche in die Bahnhofshalle trüge.
Wo blieb nur mein Bruder? Ich fror. Mein Magen fing wieder an zu schmerzen. Die Bauern zogen die Mützen tief in die Stirn, stellten die Krägen auf und gingen ihres Weges.
Im Nu stand ich einsam und verlassen auf dem Perron und schleppte selbst meine Tasche in die Halle.
Nach einer guten Viertelstunde trat ich entschlossen auf die Straße hinaus und winkte mir eine Droschke herbei. Der Kutscher, ein alter, dürrer Mann, kam mit aufgespanntem Parapluie auf mich zugesprungen, schnappte sich meine Reisetasche und hielt den Schirm so über mich, dass ich nicht allzu nass wurde. In der Droschke lag eine dicke Wolldecke.
„Wickeln Sie sie fest um Ihre Beine, Madame!“ riet mir der Mann. „Vom Perrache zum Place des Terreaux fahren wir mindestens eine dreiviertel Stunde.“
Unzählige Fabriken zogen an uns vorüber, etliche Seiden- und Jacquardwebereien mochten darunter sein, wobei ich inständig hoffte, dass man dort die Frauen nicht mehr über die Maschinen hängte,
Weitere Kostenlose Bücher