Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
„Gélis hatte die Abschrift eines entscheidenden Dokumentes zur nochmaligen Überprüfung bei sich sowie seine Hypothesen. Beide Schriftstücke sind spurlos verschwunden. Sein Geld hat man dagegen nicht angerührt. Eine wertvolle Goldmünze soll sogar offen auf dem Boden neben ihm gelegen haben. Das muss man sich nur vorstellen: Der Mörder, dieser elende Mensch, hat den Toten mitten auf den Küchenboden gelegt und ihm obendrein seine Hände gefaltet! Wen, um alles in der Welt, hat Gélis hereingelassen, so spät am Abend? Hat er das Gold, das neben ihm lag, jemandem angeboten, als Schweigegeld vielleicht? Und hat Gélis vor seinem Tod etwas verraten?“
Bérenger musste sich auf die Ofenbank setzen. Im schwachen Mondlicht, das zu uns hereinfiel, sah ich, wie er ein ums andere Mal den Kopf schüttelte. Seine Hände zitterten stark. Ich reichte ihm ein großes Glas Rum und konnte nichts tun, als ihn dann lange Zeit fest umklammert zu halten.
„Er soll einen ihm gänzlich Fremden hereingelassen haben, mitten in der Nacht? Bérenger, das kann ich nicht glauben, nicht, wenn er so vorsichtig war, wie du sagst“, meinte ich mit belegter Stimme. „Er muss seinen Mörder gekannt haben! Was sagt denn Boudet dazu? Die Nachricht kam doch von ihm, oder? Ich hab den jungen Paul gesehen, seinen Kirchendiener.“
Bérenger nickte. „Ganz sicher hat er seinen Mörder gekannt ... Boudet glaubt das auch.“
In mir stieg eine schreckliche Furcht hoch.
„Bérenger, sag es mir bitte ... die Originale ... die alten Pergamente ... Hast du sie hier versteckt?“
„Sie liegen wohlverwahrt in einem Banksafe“, sagte Bérenger. „Nur Boudet und ich wissen wo. Gélis hat nie danach gefragt, aber wir hätten es ihm auch nicht gesagt. Vielleicht hat er deshalb sein Leben lassen müssen, weil er seinem Mörder gar nicht verraten konnte, wo sich die Originale befinden. Und was Boudet anbelangt ... Boudet, also ... Boudet hat sich davongemacht, Marie!“
„Davongemacht? Wie meinst du das?“
„Nun, abgehauen ist er! Aus seinen Zeilen geht hervor, dass er sich noch heute auf eine längere Reise begeben wird, weil ihn seine Gesundheit ganz plötzlich im Stich gelassen hätte. Dieser Feigling! Dieser Schuft! Ich werde von ihm im Stich gelassen!“ platzte es aus Bérenger heraus. Aufgebracht stürzte er zur Tür, spähte hinaus, drehte sich auf dem Absatz um und lief zum Fenster. Dann kam er erneut auf mich zu:
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Was diese Originaldokumente angeht, Marie, so gebe ich dir den guten Rat, vergiss auf der Stelle, dass sie überhaupt existieren! Vergiss auch, dass wir drei uns vor kurzem hier heroben getroffen haben. Es gibt weder ein Geheimnis, noch eine Geheimkammer in unserer Kirche und schon gar keine ´Arcadia-Platte`. Ist das klar? Es geht hier auch um deine Sicherheit, Marie! Stell dich absolut dumm, unbedarft, ahnungslos, du weißt von nichts, von gar nichts! Vor allem, wenn mir etwas passieren sollte. Hast du mich verstanden?!“
Bérenger nahm mich bei den Armen und schüttelte mich heftig. Seine Augen blickten fast irre.
Ich nickte erschrocken. „Ja, ja! Beruhige dich, ich verspreche es dir hoch und heilig. Ich weiß von nichts!“
„Ich brauche Zeit, Marie! Zeit. Wir müssen den abgerissenen Faden neu knüpfen. Vertraue mir“, flüsterte er.
Danach stürmte er zur Villa hinaus und rannte hinauf zu seinem Turm.
Gélis Ermordung verfolgte mich in meinen Träumen, und die Angst um Bérenger ließ mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Am liebsten hätte ich es gesehen, wenn wir Boudets Beispiel gefolgt wären. Verschwinden, alles hinter uns lassen. Nach Madagaskar zu den Wilden oder besser gleich nach Amerika. Wozu hatten wir all diese Reichtümer? Warum sollten wir hier auf unseren Mörder warten? Doch Bérenger wollte partout nicht mit mir wegfahren.
„Ich kann hier nicht alles im Stich lassen! Ich heiße nicht Boudet. Ich harre aus. Aber du solltest gehen, Marie, du könntest wenigstens für eine Weile nach Lyon zu deinem Bruder fahren, um dich in Sicherheit zu bringen“, hatte er am nächsten Morgen, als er unrasiert und mit dunklen Augenringen in die Küche geschlurft kam, auf meine eindringliche Bitte gesagt.
Ich wusste nur allzu gut, dass ich ihn nicht würde umstimmen können. Vielleicht aber würde er, wenn ich mich weigerte, ihn zu verlassen, mit mir fortgehen, um mich in Sicherheit zu bringen, dachte ich einen Moment lang.
„Ich lasse dich hier nicht allein zurück,
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