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Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Titel: Marie ... : Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Luise Köppel
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Bérenger!“ Meine Tränen flossen reichlich, denn ich hatte wahrhaftig Angst.
    „So versteh mich doch! Ich muss mir selbst treu bleiben, Marie. Wenn du hier bleiben willst, gut. Lass uns einfach abwarten, was geschieht, wir müssen in erster Linie die Nerven bewahren, die Türen – und vor allem den Mund – fest zuschließen. Gélis kann niemand mehr helfen, und uns ist nicht geholfen, wenn wir in Panik geraten. Mit Gottes Hilfe werde ich einen Weg finden. Nein, es wird uns nichts geschehen.“
    Ich hatte mich natürlich getäuscht. Seine Worte allein sollten mir zum Trost gereichen. Aber spricht nicht geradeso ein Mensch, der sich selber Mut macht, indem er andere zu trösten versucht – einer also, der im dunklen Wald laut pfeift?
    Fünf Tage später fuhr er hinüber nach Coustaussa, um Gélis zur letzten Ruhe zu geleiten.

38
    „So sollen wir, im Ozean der Zeiten
    niemals auch nur einen Tag vor Anker gehen dürfen?“
    Alphonse de Lamartin , Le lac

    An die Fenster meines Schlafzimmers klatscht der Wind die Zweige vom großen Feigenbaum, der in diesem Jahr bald, zu bald seine Blätter verloren hat. Es hört sich gespenstisch an: patsch ... pock, pock, patsch-pock ... Der Sturm, der seit gut zwei Stunden wütet, läßt eine erste Ahnung des nahenden Winters – der dunklen Zeit – aufkommen.
    Man hat den Neffen von Gélis verhaftet, ihn aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Am Tag des Mordes war er in Paris gewesen. Nun sucht man nach einer Person, die Zigarettenpapier der Marke TZAR benutzt und seit der Mordnacht ein solches Heftchen Zigarettenpapier vermisst. Es lag neben Gélis, der Nichtraucher war. Auf einem der dünnen Blättchen soll eine sonderbare Notiz gestanden haben. Die Worte werden allerdings von der Gendarmerie nicht bekanntgegeben.
    Der Wind heult ums Haus. Es regnet so stark, dass kaum noch das einlullernde Plätschern meines kleinen Brunnens zu hören ist. Auf den hohen Blätterhaufen, den Antoine am späten Nachmittag zusammengerecht hat, um ihn morgen in der Früh zu verbrennen, fällt der Schein der Laterne, die jetzt auf Anweisung von Bérenger die ganze Nacht über brennt.
    Warum lässt Bérenger mich allein in solch einer Nacht? Allein mit dem Wissen um die Untat in Coustaussa. Eine lauernde Unsicherheit hält mich in den Klauen, bei jeder fremden Stimme auf unserem Berg erschrecke ich, und vor ungewohnten Schatten weiche ich panisch zurück. Wenn sich heute jemand zu uns heraufgeschlichen hätte, würde ihn niemand hören, bei diesem Sturm. Antoine nicht und auch Bérenger nicht in seinem Turm dort hinten. Ich sehe ihn geradezu vor mir, wie er sich wieder Notizen über Notizen macht, rasch, rasch wie vom Sturm angetrieben, fliegt seine Hand über das Papier. Warum nur?
    Tränen laufen mir über die Wangen beim Schreiben und vermischen sich mit der Tinte auf dem Blatt, aber ich kann sie nicht zurückhalten. Es sind auch Tränen der Wut über Bérenger. Ja, der Wut. Wie soll es weitergehen, frage ich ihn ein ums andere Mal? Doch er schweigt nur. Wir sind an einem Scheideweg angekommen, ohne uns zu trennen, an einem Punkt, der uns ebenso zusammenschweißt, wie er uns auseinanderzureißen droht.

    Ein neues Jahr ist angebrochen – 1907 - und Boudet befindet sich noch immer auf Reisen. Wenn ich an ihn denke, sehe ich das Traumbild meiner Jugendzeit vor mir: das weite Meer und die wogenden Palmen.
    Bérenger und ich, wir reden noch immer nur wenig miteinander. Es sind die belanglosen, die alltäglichen Dinge, an die wir uns beide klammern. Die einzige, die mir in dieser Zeit wirklich Halt gibt und immer da ist, wenn ich sie brauche, ist Henriette. Unbeirrt steht sie mir zur Seite, außerdem ist sie meist gut aufgelegt.
    Meine Mutter hat nie die Stärke dieser Frau besessen. Je älter sie geworden war, desto mehr hat sie gejammert und geklagt. Einmal litt sie an Rückenschmerzen, dann wieder an heftigen Kopfschmerzen. Kein Pulver konnte ihr helfen, kein Kräutlein brachte Linderung – es wäre aber auch zu fatal gewesen, wenn der Tee der lieben Marie Wirkung gezeigt hätte, denn dann wäre ja kein Grund zum Klagen mehr gewesen. Zuletzt hat sie meinen Vater ziemlich schikaniert. Mitunter hat sie so laut gegeifert, dass man sie auf der Gasse hatte hören können. Es war mir ziemlich peinlich gewesen, doch die Dorfleute taten so, als ob sie taub wären. Dieses Drama hat sich ganze drei Jahre hingezogen. Vater war unter Mutters Fuchtel immer wortkarger geworden, immer stiller,

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