Marienplatz de Compostela (German Edition)
stehen. »Miriam?«
Manner wunderte sich. »Ja, vorgestern. Das musst du doch wissen.«
»Vorgestern?« Bucher sann nach. Hatte er mit ihr darüber gesprochen? Hatte sie ihm etwas davon erzählt? Schlimmer noch – hatten sie in den letzten Tagen überhaupt miteinander geredet?
»Ihr wohnt schon noch zusammen?«, lästerte Manner, »du siehst schlecht aus.«
»Ich?!«, mokierte sich Bucher, »ich sehe schlecht aus?«
»Ja, du.«
»Ich bin hier der Gesunde. Du bist der Kranke.«
»Wenn es dem Aussehen nach ginge, müsstest du auch hier sein. Es würde dir guttun.«
»Gott behüte.«
»Du siehst hart aus, und bleich und unausgeschlafen. An welcher Sache arbeitest du gerade?«
Bucher war gekommen, um seinen Freund zu sehen, weil er sich Sorgen um ihn machte, und – weil es ihm selbst guttat. Über den Fall allerdings wollte er nicht mit ihm reden. Dass er allerdings hart aussehen sollte, das beschäftigte ihn durchaus, und er fragte sich, wie das zu verstehen war. Er antwortete ausweichend. »Ich schlafe schlecht. Nicht, dass ich träumte, aber es ist kein tiefer Schlaf. Das merkt man eben nach ein paar Tagen. Mehr nicht.«
»Und woran arbeitest du nun?«, ließ Manner nicht locker.
»Einer der üblichen Fälle«, blieb Bucher im Ungefähren.
»Ich weiß wirklich nichts, Johannes. Miriam hat mir nichts erzählt. Anscheinend weiß auch sie nicht, worum es geht, und glaube mir, ich bin neugierig. Wenn du mir nichts erzählst, werde ich die Gedanken nicht mehr davon lassen können, im schlimmsten Falle nicht schlafen können, was meiner Rekonvaleszenz nicht förderlich wäre … also.«
Bucher merkte, wie schwach sein Widerstand war und wie sehr sein Inneres das Bedürfnis hatte zu reden – mit Peter Manner zu reden, über alles, so wie mit niemandem anders.
Die Seefläche lag blank vor ihnen. Der dunkelblaue Himmel spiegelte sich darin und die weißen Wolken. Wenn man eine Weile in das Spiegelbild sah, wusste man nicht mehr, wo oben und unten war, denn auch die Uferlinie kippte im klaren Wasser. Ein Entenpaar zog Spuren in das Wasser und löste die Klarheit auf. Blau und Weiß vermischten sich.
Bucher erzählte von den drei Münchner Frauen, die bei Lindau verschwunden waren und von der Annahme, dass Anne Blohm noch leben könnte. Er erzählte auch von den Fotos aus den Gewölben und den Spielen, die dort stattgefunden hatten. Und ganz zuletzt von dem Bein, das in einem Mülleimer an der Autobahn gefunden worden war.
»Pilgerinnen«, sagte Manner selbstversonnen und schüttelte mehrmals den Kopf vor Grausen und Entsetzen, »mhm.«
»Die eine war eher auf einer Trainingstour. Zwei waren pilgern. Das ist ja gerade en vogue«, meinte Bucher, » ich bin dann mal weg . Entschleunigung, eilende Flucht vor der Eile, der Geschwindigkeit und der Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft.«
Manner verzog das Gesicht.
»Etwa nicht?«, fragte Bucher, »liest man doch überall.«
»Überall? Na ja. Kommt darauf an, wo für dich überall ist. Ganz sicher findet man so was in der esoterischen Ecke einer Bahnhofsbuchhandlung. Ich denke, Entschleunigung ist ein falscher Begriff, der aufs Erste als zutreffend erscheinen mag. Wer sich allerdings auf den Weg nach Santiago de Compostela begibt, zu Fuß – der hat schon ein sehr deutlich definiertes Ziel, das er gewillt ist zu erreichen. Da steckt viel Kraft und Energie dahinter, viel Auseinandersetzung mit sich selbst. Mit Entschleunigung hat das meiner Meinung nach wenig zu tun. Andersherum könnte man auch formulieren, es seien geradezu Getriebene, die so etwas unternehmen, nicht wahr? So wie diese eine Frau, der es um eine Art Fitnesstraining ging. Wie sie den Menschen wohl erschienen sein mag, denen sie auf ihrem Weg begegnet ist?«
Bucher murmelte etwas.
Manner sprach weiter. »Ich würde eher von einer Entspaßung reden, als von Entschleunigung. So wie ich das wahrnehme, geht es vielen darum, sich den Anfechtungen unseres modernen Lebens zu entziehen, der hässlichen Fratze der Medien-, Unterhaltungs- und Werbeindustrie, deren Methoden die Menschen in den Zustand einer permanenten Bedrängung versetzen – Telefonate, Filme, Mails, Clips, SMS , Flyer, visuelle Aggression, Beschallung allerorten, Spiele, Spiele, Spiele, Quiz. Der Dauerspaß, die Dauerfreude, die permanente Erregtheit, die so erzeugt wird – ihr müssen die Menschen entkommen, die feststellen, dass es nicht gut für sie ist, ihnen in der Seele nicht guttut.«
Bucher entgegnete: »Um
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