Marienplatz de Compostela (German Edition)
Offline zu gehen, muss man nicht unbedingt pilgern. Einfach den Schalter auf Aus stellen. Geht doch auch.«
Manner widersprach. »Du täuscht dich. Es gibt keinen medialen Regenschirm mehr, der zu öffnen wäre und diese Einwirkungen von einem abhielte. Das Individuum hat nicht mehr die Möglichkeit den Aus-Knopf zu drücken. Und was du da sagst, das zu sagen fällt einem privilegierten Einsiedler wie dir leicht. So einfach ist es nicht für alle und dieser Jakobsweg ist für viele Menschen eine gute Gelegenheit auf elegante Weise zu entkommen. Er ist in Mode und wer da unterwegs ist, widersetzt sich nicht auf exotische Weise den Strömungen der Gesellschaft, gilt nicht als Verweigerer, als Aussteiger, verstehst du? Eine adäquate Methode, um konform mit der Gesellschaft einen ruhigeren Parallelweg zu beschreiten.«
Bucher beschäftigte ein anderer Gedanke. »Findest du wirklich, wir sind bedrängte Menschen? Wir, in unserer heutigen Zeit – bedrängt?«
»Da bin ich mir ganz sicher: bedrängt von Gleichgültigkeit und Langeweile. Beides süße Gifte, die ihren Weg in unsere Seelen suchen, so wie Wasser die Eigenschaft innewohnt immerzu den Weg zu suchen, um zu fließen. Schau hinaus auf den See, wie er so friedlich daliegt. Im Grunde wartet er nur darauf zu fließen.«
»Na ja«, versuchte Bucher die Diskussion auf ein anderes Thema zu lenken, »besser eine in weiten Teilen infantile Erwachsenenwelt, als dieser militaristische Wahnsinn des letzten Jahrhunderts.«
Manner lachte leise und genüsslich. »Na, da liegst du aber ganz falsch, wie ich meine. Diese Infantilisierung ist ja gerade das Problem. Es gibt Gutmenschen, die ihren Kindern niemals einen Panzer zum Spielen schenken würden, aber nichts dabei finden, wenn die Kleinen virtuelle Tierchen, Monsterchen oder andere Geschöpfe zu Tausenden vernichten. Tagtäglich. Wie sie ihr Gehirn darauf trainieren zu töten, sich zusehends enthemmen und eine kühle Routine dabei entwickeln. Wehe, sie würden mit Zinnsoldaten Strategiespiele abziehen. Da wäre sofort eine psychologische Beratung vor Ort. Für mich besteht zwischen beiden Varianten wenig Unterschied. Die Medienformen sind andere. Aber lassen wir es gut sein. Was bedrückt dich wirklich? Du hattest doch schon andere Fälle, aber so habe ich dich noch nicht gesehen. Woran liegt es?«
Bucher zögerte. Eigentlich wollte er über die Enten sprechen, oder den See, der so friedlich vor ihnen lag und über dessen Fläche das Krächzen eines Raben schallte. Er hatte einige interessante Kisten Wein gekauft und darüber hätte er erzählen wollen – welche Gerichte dazu passen würden. Stattdessen murmelte er: »Diese Anne Blohm, das letzte Opfer. Ich glaube, sie ist noch am Leben.«
Peter Manner schlug die Hände vor den Mund und sah Bucher erschrocken an. »Du meinst wirklich, sie lebt noch?«
»Ja. Ich bin sogar davon überzeugt und wir kommen keinen Schritt weiter, keine Spur, nichts, was einem Hoffnung machen könnte … du verstehst? Es ist, als drehten wir uns im Kreis. Das macht mich ganz verrückt.«
Peter Manner verstand. Er schwieg und sah hinüber zu den Enten, die einem geheimen Muster zu folgen schienen und nun wieder auf sie zu schwammen. Er war froh, hier auf der Bank sitzen und ihnen beim Schwimmen und Gründeln zusehen zu können, ohne von dem Gefühl heimgesucht zu werden, etwas zu verpassen, irgendwo zu fehlen oder gebraucht zu werden. Das war purer Luxus und es hatte einer ernsthaften Krankheit bedurft, um ihn darauf aufmerksam zu machen – ausgerechnet ihn, den Pfarrer.
Im Moment wusste er keinen Rat, den er seinem Freund hätte geben können.
»Das ist schwierig, denn du kannst dir die Verantwortung nicht einfach so von den Schultern nehmen. Es ist gut, dass du merkst, was mit dir passiert. Das ist gut.«
Sie blieben noch eine ganze Weile sitzen und Bucher erzählte doch noch von Château Labégorce und der Domaine Chante Cigale, dem Kalbsbraten in Morcheln nach alter Pfarrersköchinnenart und von der Wildpastete. Manner grinste vergnügt in die paradiesische Landschaft.
Später gingen sie zurück zum Haus und Bucher kam noch mit zum Abendessen. Danach fuhr er. Es war dämmrig geworden und der Wind war zur Ruhe gekommen. Die Rosen leuchteten immer noch und in der Luft war lauter Süße.
Entwischt
Am Tag darauf freute sich Bucher über die freie Fahrt auf der A96 bis auf den Mittleren Ring. Ein befremdliches Gefühl, so ganz ohne Stau. Auch der Innenhof des Amtes wirkte
Weitere Kostenlose Bücher