Marienplatz de Compostela (German Edition)
Möbelstück steckten die Überlieferungen einer Familie, die Kriege, Inflationen und andere Niederlagen überstanden und all dies im familiären Gedächtnis verinnerlicht hatte. Das machte sie so stark, so duldsam und beinahe unerschütterlich. Es sei denn, die Hand wurde an die Wurzel gelegt – den Fortbestand.
Hartmann lächelte Frau Blohm sanft an. Diese Frau war eine perfekte Hüterin des familiären Gedächtnisses. Wo sonst kam diese Beherrschtheit her, diese Selbstkontrolle. Sie saß ruhig und geordnet am Tisch, war perfekt gekleidet – sie ließ sich nicht etwa gehen, was man auch hätte verstehen können. Alles stand für sie auf dem Spiel – nicht allein das Schicksal ihrer Tochter. Die Umstände betrafen auch den Fortbestand der Familie.
Hartmann begann das Gespräch betont sachlich. Er verdeutlichte, dass sie sich noch ganz am Anfang ihrer Ermittlungen befanden, sprach in groben Zügen die bisher getroffenen Maßnahmen an, und kam darüber zu den neuen Fragestellungen, die sich für sie ergeben hätten.
Frau Blohm lauschte aufmerksam seinen Ausführungen. Dieser Hartmann sprach von ganz allgemeinen Dingen, ihren Routinearbeiten, von Sucheinträgen und Ermittlungsersuchen, von Kriminaltechnik. Es gab also noch nichts Konkretes.
Ihr Mann nickte bestätigend zu dem Gesagten und es nervte sie. Wieso tat er so, als könne er mit dem zufrieden sein, was da gesprochen wurde? Es war doch – nichts.
Hartmann richtete seine erste Frage an Blohm. »Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihrer Tochter bezeichnen?«
Herr Blohm sah ihm vertrauensvoll in die Augen und hob die beiden muskulösen Arme in einer unbestimmten Geste von der Tischplatte.
Frau Blohm fand die Frage indiskret und schaltete sich ein: »Wie meinen Sie das, Herr Hartmann?«
Sie erwartete im Grunde keine Antwort; eher noch wollte sie diesen Polizisten in die Schranken weisen.
Hartmann stellte die Frage neu, nun an beide gerichtet. Es klang mitleidslos. »Hatten Sie ein offenes, ein vertrauensvolles Verhältnis zu Ihrer Tochter, oder war es eher belastet, gab es da Schwierigkeiten? Haben Sie sich oft gesehen, oder eher selten? Hat sie mit Ihnen wichtige Entscheidungen ihr Leben betreffend besprochen, oder nicht, und wie hat sich der Tod Ihres Sohnes auf die Beziehung zu Ihrer Tochter ausgewirkt und sie unter Umständen verändert?«
Frau Blohm musste schlucken. Was wollte dieser Kerl? Sie sprach energisch. »Ich verstehe nicht, worauf sie hinauswollen, Herr Hartmann. Selbstverständlich hatten wir ein gutes, ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu unserer Tochter.«
Hartmann nickte. Sie hatte ihre Stimme noch unter Kontrolle, obwohl sie sich angegriffen fühlte, und sie formulierte noch schlüssig. Eine starke Frau. Andere hätten hier schon geheult oder beleidigend reagiert.
Bucher hatte ihm das Foto von Anne Blohm gezeigt und sie als offenen, frischen Typ bezeichnet und gemeint, sie würde auf dem Foto noch etwas anderes ausstrahlen. Hartmann hatte es sofort gesehen: Willensstärke und Dominanz, und er entdeckte es gerade wieder: in den engen Augen der Mutter.
Er sagte: »Sie hatte sich vor einiger Zeit von ihrem Freund getrennt … Sie waren nicht einverstanden damit. Gab es Diskussionen darüber?«
Er sagte es lapidar, ohne besondere Betonung, wodurch es lauernd und gefährlich klang. Frau Blohms Gesicht hatte im Nu die Farbe ihrer Haare angenommen, tiefe Schatten legten sich unter ihre Augen und ihre Stimme klang dünn und zittrig. »Natürlich gab es Diskussionen, aber eben Diskussionen … geordnet und sachlich … nichts anderes. Was wollen Sie denn mit ihren fürchterlichen Fragen? Ich dachte die Polizei kümmert sich um unsere Tochter, um den Fall, und hilft uns … stattdessen …«
Hartmann lenkte ein. Es machte keine Freude grausam zu sein. »Es tut mir leid, wenn meine Fragen verletzend erscheinen, Frau Blohm. Wir bemühen uns, alles zu erfahren und gerade was die Beziehungen innerhalb von Familien angeht, bleiben uns solche Fragen den Angehörigen gegenüber nicht erspart. Das gehört zur Routine.«
Ihr Mann fragte: »Was glauben Sie, ist mit unserer Tochter geschehen? Sie haben mit solchen Fällen doch ständig zu tun.«
Was sollte Hartmann darauf antworten? Gerade mit solchen Fällen hatten sie im Grunde nichts zu tun, denn Vermisstensuche war gerade nicht ihr Job. Sie hatten eher mit vollkommen Toten zu tun. Er blieb ungefähr. »Ich kann Ihnen leider nichts dazu sagen, Herr Blohm. Ich habe keine
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