Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Schultern. »Aber bei schönem Wetter ist es nett hier.«
»Bei schönem Wetter ist es überall nett«, grummelte Zinkel, »jedenfalls fast«, differenzierte er. Was nutzte einem der schönste Ort, das schönste Wetter, wenn doch nur Elend war? Warum begriffen manche Eltern nicht, was sie ihren Kindern antaten? Was sie aus ihnen machten, genauer gesagt. Vermutlich war Degener als Kind ebenfalls verdroschen worden, irgendeine Erklärung fände sich schon. Trotzdem gelang es ihm nicht, Mitleid zu empfinden.
* * *
Marilene stöhnte und klappte die Akte zu. Juristendeutsch war eine Plage, und es gab Tage, an denen ihr Gehirn sich sperrte, den Sinn eines Textes zu erfassen, besonders wenn es um Bagatellsachen ging, die von diesen gewundenen Endlossätzen unnötig aufgeplustert wurden. Sie hob die Kaffeetasse an und kippte sie, vergaß allerdings, den Mund rechtzeitig zu öffnen, sodass sich das inzwischen lauwarme Gebräu über ihre Bluse ergoss. Ihre weiße Bluse, ausgerechnet. »Mist«, schimpfte sie, zog ein Taschentuch aus dem für ergriffene Mandanten bereitstehenden Karton und tupfte an sich herum, doch das machte die Sache bloß schlimmer. Zwar hatte sie nur noch Papierkram zu erledigen, aber man konnte nie wissen. Sie sprang auf, rief Renate ein »Bin gleich zurück« zu und sprintete nach oben.
Das Kleiderschrank-Dilemma fiel kürzer als üblich aus, zu ihrer grauen Hose passte eigentlich nur die lilafarbene Bluse, fand sie und wollte sie vom Bügel ziehen. Sie widersetzte sich. Komisch. Marilene nahm den Bügel aus dem Schrank und schüttelte den Kopf. Da musste sie aber sehr umnachtet gewesen sein, als sie das letzte Mal gebügelt hatte: Sämtliche Knöpfe waren geschlossen. Sie überlegte, wann das gewesen war und was sie abgelenkt haben könnte. Vor vierzehn Tagen etwa, auf jeden Fall vor Arnes Besuch, ach, das würde es sein, bestimmt hatte Arne sich einen Spaß erlaubt. Erleichtert, nicht schon einer frühen Form von Demenz anheimzufallen, zog sie sich rasch um und lief wieder hinunter. Renate lächelte spitzbübisch. Als Marilene die Tür zu ihrem Büro aufstieß, wusste sie, warum.
»Hallo, schöne Frau«, schmeichelte Gerrit und verbeugte sich schwungvoll und so tief, dass jemand Älteres sich einen Hexenschuss eingebrockt hätte. »Steht dir gut, die Bluse«, sagte er in Richtung seiner Knie.
»Komplimente kannst du dir sparen«, pflaumte sie ihn an. »Was soll das werden? Es ist ja nicht so, dass ich deine Gesellschaft nicht schätze, aber du hättest wenigstens fragen können.«
»Hab mich nicht getraut«, gab er zu, drückte sich die Hände ins Kreuz und richtete sich wieder auf. »Ich muss dir was beichten.«
»Na, dann schieß mal los.« Marilene stemmte die Hände in die Hüften; so schnell würde sie nicht klein beigeben.
Gerrit ließ sich in einen der Besuchersessel fallen und starrte an die Decke. »Ich hab das Studium geschmissen«, bekannte er, »und obdachlos werde ich auch, weil Lothar das Haus in Wiesbaden verkauft hat. Ich hab gedacht, ich könnte vielleicht … Ich weiß noch nicht so richtig, was ich will. Ich war mit Niklas an der Uni, und ein paar Sachen kommen schon in Frage, aber ich kann mich nicht entscheiden, und jetzt sollte es doch die richtige Wahl sein, mehr als ein Wechsel macht sich im Lebenslauf einfach nicht gut. Da habe ich gedacht, ich könnte die Zeit ein bisschen überbrücken und mich nützlich machen? Gegen Logis vielleicht? Lothar wäre einverstanden, wenn du es bist, ich darf sogar seine Wohnung renovieren, damit du mich nicht dauernd auf der Pelle hast, sagt er.«
»Sehr rücksichtsvoll.« Hatte sie es doch gewusst, dass da was im Busch war. Sie musterte ihn, sich vergeblich um ein grimmiges Gesicht mühend, neutral, desinteressiert, das bekam sie gerade noch hin, und Gerrit rutschte tiefer und tiefer im Sessel. Wenn er auf die Knie fällt, schmeiß ich ihn raus, dachte sie und dehnte das Schweigen noch ein wenig aus. »Okay«, sagte sie schließlich.
Gerrit schnellte auf die Beine, als stünde der Sessel in Flammen. »Heißt das, ich darf bleiben?«, fragte er mit kieksender Stimme.
Das Klingeln des Telefons brachte ihn um die Liste der Bedingungen, die sie zu stellen gedachte. Intern, stellte sie fest und meldete sich.
»Herr Zinkel von der Kripo für Sie, soll ich durchstellen?«, fragte Renate.
»Oh? Ja, bitte. Paul?«, traute sie sich ans Du.
»Ja, ich, also das ist dienstlich«, stammelte er. »Bist du nicht Lilian Tewes’
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