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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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Trotzdem ging sie dorthin und vergewisserte sich. Nein, das wäre auch zu einfach gewesen. Zu nahe. Küche. Aber dort hatte sie bereits sämtliche Schubladen und Schränke nach Schlüsseln durchstöbert. Wohnzimmer. Sie ging zurück, stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich langsam um die eigene Achse, alles, was sie sah, auf die Tauglichkeit als Versteck prüfend, und noch einmal. Ihr Blick blieb an einer hässlichen Vase hängen, beige mit Goldrand, die oben auf dem Bücherregal stand, für sie knapp außer Reichweite, für jemand Größeren mühelos greifbar. Sie holte einen Stuhl, kletterte hinauf und schüttelte die Vase. Yes , das Klimpern verriet, dass sie richtiglag. Sie schnappte sich den Schlüssel und ging zu dem Zimmer, zögernd auf einmal, manche Geheimnisse wollten nicht gelüftet werden, wer wüsste das besser als sie. Trotzdem konnte sie nicht widerstehen und steckte den Schlüssel ins Schloss. Tief Luft holend, drehte sie ihn herum, drückte die Klinke hinunter und stieß die Tür auf.
    Das Zimmer war verdunkelt, sie konnte überhaupt nichts erkennen und tastete nach dem Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne erwachte, zitternd zunächst, zum Leben, und sie blickte in einen Lagerraum, in dem sich Berge von Kisten stapelten. Was für eine Menge Zeug, dachte sie, auf jeden Fall genug, um ein paar Tage beschäftigt zu sein. Sie seufzte, sie hatte nicht vor, viel länger zu bleiben, am Abend würde sie Frank sagen, dass sie nach Hause wollte.
    Sie öffnete wahllos ein paar Kisten, stieß auf Bücher, Geschirr, Bettwäsche, Klamotten, schaute in diese genauer hinein, Frauenklamotten, stammte hier das komische Kleid her?, überlegte sie, zog das oberste Teil heraus, einen Rock, den sie mit schräg geneigtem Kopf musterte. Könnte sein, die Größe kam jedenfalls hin, und beides erschien ihr ziemlich alt und unmodern.
    In der nächsten Kiste befanden sich Aktenordner. Sie wollte sie schon wieder schließen, gewiss Versicherungskrempel oder Kontoauszüge, viel zu langweilig, um sich damit abzugeben, da fiel ihr Blick auf ein lose zwischen zwei Ordnern hervorschauendes Blatt Papier. Sie zog es heraus. Testament, las sie, und als sie die Namen sah, erinnerte sie sich wieder daran, wie Franks Geldbörse runtergefallen war, wie sie den verstreuten Inhalt aufgesammelt hatte und wie merkwürdig Frank sie danach angesehen hatte. Das war es, was er hatte verbergen wollen. Aber warum? Was war so schlimm daran, schon einmal verheiratet gewesen zu sein? Und den Namen der Frau angenommen zu haben? Das war heutzutage echt nichts Besonderes mehr. Sie würde ihn fragen, nachher.
    * * *
    Tage und Nächte verschwammen, grau, alles nur grau, sie wusste nicht mehr, wann sie schlief, wann nicht, was sie die ganze Zeit über gemacht hatte. Nichts, vermutlich. Sie pendelte zwischen Schlafzimmer und Küche hin und her, saß oder lag, starrte hinaus oder an die Decke, döste ab und zu ein, träumte wirres Zeug; die Träume waren real, die Realität ein Traum, oder umgekehrt, oder keins von beidem, und selbst die Einsamkeit nahm sie kaum als solche wahr, dabei fürchtete sie nichts so sehr, wie allein zu sein, dies Schreckgespenst, das letztlich all diese entsetzlichen Dinge heraufbeschworen hatte.
    Jetzt war es gut, allein zu sein, die Stille kam ihr vor wie eine wärmende Decke, unter der sie sich verkroch, wo sie kein Vorwurf mehr treffen konnte, nicht mal der eigene, darüber war sie längst hinaus. Ihr war, als vergehe sie ganz allmählich, sie wurde immer weniger, hatte sie überhaupt etwas gegessen?, sie konnte sich nicht erinnern, verspürte aber keinen Hunger, also vielleicht doch?, und sie wurde immer blasser, nicht im Sinne von keine Sonne, nein, sie verblasste, sie war schon fast durchsichtig, im Spiegel jedenfalls war kaum noch etwas von ihr zu erkennen. Ein Glück, sie musste furchtbar aussehen, hatte, seit wann?, weder die Kleidung gewechselt noch geduscht. Zähneputzen war das Einzige, was sie fertiggebracht hatte, der Geschmack im Mund war gar zu grässlich gewesen.
    Trotzdem, überlegte sie träge, sollte sie sich noch einmal aufraffen, sich schön machen, schöner denn je, sonst wäre ihr Anblick nicht zu verkraften für den, der sie fände – irgendwann würde sie doch jemand finden?, Frank, Antonia, ein Nachbar, den der Gestank stutzig machte, einerlei –, sie wollte, dass man sie als schön in Erinnerung behielt, wenigstens das, nicht als die, die sich zum Ende hin so sehr hatte gehen lassen. Sie

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