Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
stemmte sich vom Küchenstuhl hoch und ging ins Bad, musterte unentschlossen die Dusche, die Wanne, das Becken, später, dachte sie, vielleicht schaff ich es später. Sie wankte wieder hinaus.
Bett? Küche? Ihr Blick blieb an der Treppe hängen. Mühsam kämpfte sie sich hinauf, zog sich am Geländer empor, bis sie oben war, außer Atem und mit weichen Knien. Antonias Zimmer war verwaist. Wie auch, was hatte sie erwartet, erhofft, ganz wider besseres Wissen? Es wirkte fast, als wohnte schon ewig niemand mehr darin. Ewig war ein Wort ohne Hoffnung. Sie wandte sich ab, setzte sich ans Ende der Treppe und rutschte Stufe um Stufe wieder hinab. Unten angelangt, stand sie auf, und ihre Füße brachten sie eigenmächtig ins Wohnzimmer.
Sie war nicht mehr hier drin gewesen seit – seit alle weg waren. Ihre Pflanzen hingen so elend herum wie sie. Ihr hättet euch nicht mit mir einlassen sollen, dachte sie, das habt ihr nun davon. Ihr Blick fiel auf den Sekretär. Etwas lag darauf, etwas, das nicht dort hingehörte. Das hatten wir doch schon, die Erinnerung war ein Raubtier und fiel über sie her, krallte seine Klauen in ihr Herz, und ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Brust. Trotzdem schleppte sie sich näher heran, und als sie erkannte, was dort lag, erstarrte sie, das Eis war zu dünn, das Einzige, was sich noch rührt, sind ihre rasenden Gedanken, wie kommen diese Fotos hierher, wer will sie so sehr verletzen und Antonia gleich mit?, ein Brief, sie lacht krächzend, wieder ein Brief, das darf doch nicht wahr sein, verdammt, sie kann nicht lesen!, schreit es in ihr; sie braucht ihn auch nicht zu lesen, es ist vollkommen egal, was darin steht, die Botschaft ist klar genug: Deiner Vergangenheit entkommst du nie! Sie lauert hinter jeder Tür, jedem Strauch, jeder Ecke, zusammen mit der Erinnerung, und gemeinsam kriegen sie dich klein, sie zermalmen dich, bis nichts mehr ist, nur Staub. Grauer Staub. Die Posaune bläst schon zum Angriff, hörst du’s? Jetzt ist es endgültig besiegelt, dein elendes Schicksal, da ist alles Flehen vergebens, oh, vergib …
Keine Posaune, das Telefon. Das Telefon? Langsam, ganz vorsichtig jetzt, nicht, dass das Eis noch bricht, rutscht sie auf dem Parkett rückwärts, erst an der Tür zum Flur dreht sie sich um und stürzt auf das kleine Tischchen zu, auf dem es steht, greift nach dem Gerät, doch es entgleitet ihren schweißnassen Händen und fällt polternd zu Boden, hastig klaubt sie es auf, Frank redet bereits, schnell und laut, Worte wie Pfeile: »Sie kommt nicht zurück zu dir, hörst du? Sie will dich nie wieder sehen –«
Sie taumelt, loslassen, denkt sie, alles loslassen, die Hoffnung vor allem, es gibt keine Zukunft für sie, nirgends, mit niemandem, wie hatte sie nur glauben können, alles würde wieder gut? Sie geht, Watte, nicht Eis, ins Badezimmer und wäscht sich das Haar, föhnt es, und die heiße Luft lässt es wild wehen und glänzen, eine Spur heller noch als sonst. Danach schminkt sie sich, ihre Finger zittern kaum, selbst der Lidstrich gelingt, und sie schaut sich tief in die Augen. Niemand zu Hause, denkt sie, alles ist gut. Sie gießt Duftöl in die Wanne und dreht den Heißwasserhahn auf, prüft mit dem Ellenbogen die Temperatur, wie einst, als Antonia noch ein Baby war, Tränen wellen auf, sie blinzelt sie zurück, es wird gehen, denkt sie und sieht dem Schaumberg beim Wachsen zu, für einen Moment. Etwas fehlt noch, sie reißt sich von dem Anblick los, holt das hübsche Teelicht aus weißem Porzellan mit Löchern in Notenform, das Antonia ihr zu Weihnachten geschenkt hat, und zündet die Kerze an. Dann legt sie die Klinge auf den Wannenrand, zieht sich aus und steigt in die Wanne.
Das Rauschen des Wassers ist Musik, ein letztes Lied, das Wasser schwappt über den Rand der Wanne, doch sie dreht den Hahn nicht ab, weil sie genau weiß, dass sie dann schwach würde und ihr Vorhaben aufgäbe, und das ist nicht vorgesehen, einmal im Leben muss sie etwas zu Ende bringen, und dies ist der Augenblick, in dem sie tut, was sie tun muss, sie nimmt die Klinge in die rechte Hand, setzt sie über der Ader an, die vom heißen Wasser so schön dick und gut zu finden ist, und zieht. Es tut überhaupt nicht weh, wundert sie sich, sie lässt die Hände unters Wasser sinken, und schon bald kann sie sie nicht mehr sehen in diesem Meer von Rot, und ihr wird ein wenig schwindelig, noch nicht, noch nicht ganz, beschwört sie sich, sie will sich beim Sterben zusehen, damit nicht in
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