Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
tippelnd hinterherzukommen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Lass dich einfach fallen, hör nur auf die Musik, vertrau mir«, raunte er ihr ins Ohr.
Klar doch, dachte sie, nichts leichter als das, und die Musik spielte in einem fort, immer dasselbe Lied in einer Endlosschleife, and it burns, burns, burns, the ring of fire , ihre Füße brannten wie Hölle, I went down, down, down , oh ja, sie spürte, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde, and the flames went higher , sie fraßen sie von innen her auf.
Endlich gab er sie frei. Sie kickte die verdammten Schuhe von sich und machte ein paar wacklige Schritte Richtung Sessel. Er versperrte ihr den Weg.
* * *
Sie kauerten am Rand des Grundstücks, von wo aus die Sicht erheblich besser war, und das schwach erleuchtete Wohnzimmer glich einer Bühne. Die Inszenierung allerdings war miserabel, verdiente faule Eier, fand Marilene. Herzog taugte nicht zum jugendlichen Liebhaber, so wenig wie Antonia zum Objekt seiner Begierde, Fehlbesetzungen, wenn sie je welche gesehen hatte. Antonia steckte in einem hauchdünnen Kleidchen, das weder Jahreszeit noch Anlass gerecht wurde, Herzog im feierlichen Anzug, und beides verstärkte den Eindruck, sie wohnten einer Schmierenkomödie bei, dabei bahnte sich hier eher eine Tragödie an, fürchtete sie mit stetig wachsender Gewissheit. Der Regisseur gehörte geteert und gefedert. Was sollte die blöde Tanzerei, fragte sie sich, glaubte Herzog wirklich, er könne Antonia betören, oder befand er sich längst fern jeglicher Realität, gefangen in einem Wahn, dessen Ursprung sie nicht mal ahnen konnte?
Was tun?, verdammt, sie waren näher dran am Geschehen, so nah, dass der in dieser Senke noch unberechenbarere Wind in Böen Musikfetzen herantrug, doch eine Lösung war so wenig greifbar wie zuvor. Olaf schnaufte ihr in den Nacken, etwas vor sich hin schimpfend, das sie nicht verstand. Sie schaute zum Himmel jenseits des Hauses auf, noch immer hoffend, endlich reflektierendes Blaulicht zu entdecken. Nichts. Die Zeit drängte.
»Bist du sicher, dass die dich richtig verstanden haben, wo der Verletzte zu finden ist?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, die Verbindung war echt mies.«
»Okay, pass auf. Du gehst nach vorn und klingelst, aber warte nicht, bis Herzog an die Tür kommt, sondern versteck dich. Sobald er aus dem Zimmer geht, bring ich Antonia dazu, rauszukommen.« So simpel, dachte sie, wieso war sie nicht früher drauf gekommen?
»Umgekehrt«, sagte Olaf, »du gehst, ich hol sie.«
»Aber dich kennt sie nicht«, widersprach Marilene, »mir vertraut sie.«
»Ich glaub nicht, dass er überhaupt zur Tür kommt. Warum sollte er? Und was ist, wenn er seine Waffe gegen Antonia richtet? Oder gegen dich, sobald er dich sieht? Nee, ich lass dich auf gar keinen Fall allein.«
Sie stöhnte und schaute wieder nach vorn. Die Musik kam ihr auf einmal lauter vor; stürmte der Wind ihr nicht um die Ohren, Aufmerksamkeit fordernd wie ein quengelndes Kleinkind, könnte sie hören, um welches Stück es sich handelte. Als wenn das eine Rolle spielte, schalt sie sich, die tiefere Bedeutung für Herzog würde sich ihr kaum erschließen. Mutlos stützte sie sich auf dem Boden ab, spürt Steine unter den Händen, Pflastersteine, tastend sucht sie nach einer Erhebung, einem Ansatz, den sie greifen kann, da, ja!, ein paar Millimeter nur, doch sie schafft es, sich in die Fugen zu krallen, die Fingernägel brechen, sie beißt den Schmerz zurück, rüttelt, bis sie den Stein schließlich freibekommt, ihn und den nächsten gleich mit, Olaf scheint nichts davon zu bemerken, komisch, sie wendet kurz den Kopf nach ihm, nein, er schaut gebannt nach drinnen, sie folgt seinem Blick, Antonia tanzt, allein jetzt, und wie sie tanzt, und plötzlich begreift sie, hat sie die Stimme von Lilians Mutter im Ohr: Wenn Antonia singt, stirbt sie. Doch es ist nicht das Singen, es ist das Tanzen.
* * *
»Tanz«, befahl er, »jetzt kannst du’s allein.«
Wie lange denn noch?, überlegte sie mit wachsender Verzweiflung und tappte nun barfuß auf dem kalten Fußboden herum, keine Tänzerin, wie auch, wenn man auf etwas keinen Bock hatte, wurde es nie gut.
»Mach die Augen zu, lass dich fallen«, sagte er. »Stell dir vor, ich wäre gar nicht da.«
Sehr witzig. Wenn Wünsche Flügel hätten, denkt sie und weiß, er meint nicht fallen, sondern gehen, aber sie schließt die Augen, denn da ist was in seiner Stimme, das irgendwie komisch klingt, fast –
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