Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
panisch? Sie versucht es, ehrlich, vielleicht, wenn sie es gut genug machte, würde er sie in Ruhe lassen, hofft sie und taucht ein in Melodie und Text, findet endlich zu fließenden, rhythmischen Bewegungen, die, würde sie sich sehen, ihr schrecklich albern vorkämen, sicherlich, doch sie schiebt ihr Unbehagen beiseite und alles Wissen, jede Ahnung fort, nur noch Musik, und die Musik wechselt, etwas Wildes, hektisch, verzweifelt beinah, tanze, Gerda, tanze, tanz die ganze Nacht , das nicht, bitte, das schafft sie im Leben nicht, doch sie wirbelt weiter, dreht sich und stampft und wirft die Arme hoch, brauchst sie nicht zu fürchten, wir geben schon drauf acht, dass nicht die Alten kommen , und sie lacht, lacht Tränen und tanzt weiter, sie sind längst da, er ist längst da, niemand hat drauf geachtet, ihn fernzuhalten von ihr, und sie öffnet die Augen, sieht zu ihm hin, dreht sich und schaut, dreht sich und schaut, die Ballerina in der Spieluhr, und die Uhr läuft bald ab, sie spürt es genau, tanz die ganze Nacht , und immer noch steht er reglos da, gefesselt von ihr, doch er sieht nicht sie, er blickt durch sie hindurch in eine andere Zeit, sieht eine andere, eine, der sie niemals gleichen wird, aussichtslos, dem Anspruch zu genügen.
Die Sekunden ticken rhythmisch jetzt und stockend, und sie nimmt eine winzige Veränderung wahr, ein Knistern in der Atmosphäre, der Funke vorm Flächenbrand, und sie weiß, sie wird die Nacht nicht überstehen, und dann schürt er das Feuer, »Lilian!«, ruft er; sie dreht sich fort von ihm und zeigt ihm die kalte Schulter, mich kriegst du nicht, damals wie heute, mich nicht, nicht kampflos, sie krümmt sich, spannt jede Faser bis in die Fingerspitzen, fährt herum und schnellt hoch, reißt den Mund auf, »krank bist du, total krank!«, brüllt sie, doch niemand hört sie, nicht einmal er, ihre Worte gehen im Bersten der Scheibe einfach unter wie nie gesprochen, nie geschrien, und der Wind fährt gewaltig ins Zimmer, als habe er zu lange auf Einlass warten müssen, und plötzlich nimmt sie alles überdeutlich wahr, den Knall, denselben Knall wie vorhin, und es ist nicht der Wind, dessen ist sie sich diesmal ganz sicher. Franks Gesicht, überrascht und verwirrt, als erwache er gerade aus einem Traum, ein böses Erwachen – er öffnet den Mund zu einem perfekten O, und genau in diesem Moment erscheint ein roter Fleck auf seiner Stirn, ein blumiges Tattoo, und Antonia taumelte, fiel sachte zu Boden, schwebend fast, wie ein achtlos fallen gelassenes Blatt Papier oder ein Brief, und verlor das Bewusstsein.
* * *
Der noch immer wütende Wind wehte einen Knall heran. Ein Schuss, unverkennbar. Zu spät, verdammt, so knapp, kaum mehr als ein paar Minuten, und doch zu spät, wieder ein junges Leben ausgelöscht, und sie hätten es verhindern können, wenn er Herzog von vornherein überprüft oder wenigstens Marilenes Instinkt vertraut hätte, wenn der verdammte Sturm nicht wäre, der Kapitän der Fähre etwas waghalsiger gewesen, wenn, wenn, wenn, hämmerte es im Rhythmus seiner stampfenden Schritte durch seinen Kopf, und wer würde es Lilian sagen? Er stemmte sich energischer gegen die Böen, die ein Vorwärtskommen um jeden Preis zu verhindern suchten, dabei würde er am liebsten klein beigeben, sich auf den Boden schmeißen und jemanden, vorzugsweise Herzog, mit den Fäusten traktieren, bis der Schmerz nachließ, was er nicht würde, dieser Schmerz würde nicht vergehen. Er stolperte über irgendetwas und stürzte.
Charlie holte ihn ein, leuchtete mit der Taschenlampe auf das Hindernis, und wieder fand er sich Auge in Auge mit einer Leiche. Immerhin war diese noch nicht skelettiert, dachte er, und immerhin kein Kind.
»Lüko!«, schrie Charlie entsetzt auf.
Er setzte sich auf und tastete sicherheitshalber nach einem Puls. Doch, glaubte er, schwach, unregelmäßig, aber doch vorhanden. Er nickte. Charlie zerrte umständlich ihr Handy hervor und setzte einen Notruf ab, während er die Jacke des Mannes öffnete. Blut, eine Menge Blut, er schob das Hemd hoch, merkwürdig, irgendjemand hatte notdürftig die Wunde versorgt, eine Schusswunde offensichtlich, aber wer? Und wieso war dann nicht längst ein Rettungswagen vor Ort? Das Holster war leer, also war der Kollege mit seiner eigenen Waffe angeschossen worden, folgerte er. Noch ein Wenn, und dieses war fatal: Wenn sie Rosenboom nicht gebeten hätten, nach dem Rechten zu sehen, wäre Herzog nicht in den Besitz einer Waffe gelangt,
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