Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
und Antonia könnte noch leben. Er schloss die Jacke wieder und registrierte erst jetzt, dass rechts und links vom Verletzten der Sand zu einem Wall aufgehäuft worden war.
»Vorhin hat schon mal jemand einen Notruf getätigt«, sagte Charlie, »aber das Gespräch ging kaputt, bevor der Anrufer seinen Standort nennen konnte. Rückruf hat nicht geklappt, der Teilnehmer war nicht erreichbar.«
»Ein Mann aber?«, fragte Zinkel.
Charlie nickte.
»Was ist hier los?«, überlegte er laut und stand auf. »Herzog wird wohl kaum Hilfe gerufen haben, also muss noch jemand hier unterwegs sein, und zwar gezielt, an einen zufälligen Spaziergänger glaub ich bei dem Wetter absolut nicht. Verstärkung wär gut«, fügte er hinzu.
»Wäre eh höchstens einer«, sagte Charlie, »und ich weiß nicht, wie Lükos Kollege heißt und ob er überhaupt auf der Insel ist. So lange können wir nicht warten.«
Sie holte ihre Waffe heraus, entsicherte sie und zog den Ärmel ihrer Regenjacke darüber. Zinkel tat es ihr gleich und ging wieder voran.
Das Haus kam in Sicht, genau genommen entdeckte er ein schwach erleuchtetes Fenster, das Haus nahm er erst danach als bloßen Umriss wahr. Er bedeutete Charlie, die Taschenlampe auszuschalten, und sie liefen gebückt weiter, bis sie mit dem Rücken zur Wand an beiden Seiten des Fensters standen. Zinkel warf einen kurzen Blick hinein und duckte sich weg. Niemand. Er schob noch einmal den Kopf vor. Küche, erkannte er, der Lichtschein stammte aus dem hinteren Bereich des Hauses. Er zuckte mit den Schultern und vollführte mit den Händen einen Kreis: Sie würden das Haus getrennt umrunden und sich hinten treffen. Charlie nickte.
Zinkel hoffte, durch eins der Fenster an der Seite des Hauses zu erkennen, was sich drinnen abspielte, doch er wurde enttäuscht. Hier waren alle Fensterläden geschlossen. Er spähte sichernd blitzschnell um die Ecke, zog wieder den Kopf ein, im Garten war niemand gewesen, und trat vor, die Arme ausgebreitet in einer Geste, die Charlie sagen sollte, auf seiner Seite sei alles in Ordnung. Auch sie sicherte zunächst, erkannte er, bevor sie um die Ecke kam und seine Gebärde kopierte.
Wieder mit dem Rücken zur Wand schoben sich beide Schritt um Schritt näher an die Terrasse heran. Musik erklang. Musik? Zinkel schüttelte den Kopf, er musste sich täuschen. Er schob sich weiter, erreichte die Terrasse, kein Irrtum, tanze, Gerda, tanze , hörte er, und in diesem Augenblick wurde die Anlage abgeschaltet, und da war nur noch das Heulen des Windes, eher kläglich jetzt denn wütend; er spürte, wie etwas unter seinen Füßen knirschte, und dann endlich stand er direkt neben der Wohnzimmertür, die ihr Glas eingebüßt hatte, daher das Knirschen, und er hörte jemanden weinen, eine Frau, ein Mädchen?, hoffte er. »Sh«, flüsterte der Wind und raunte »Alles ist gut«, nicht der Wind, eine Frau, Marilene?
Alle Vorsicht außer Acht lassend, sprang er in einer einzigen fließenden Bewegung um die Tür herum und runter, stützte sich auf ein Knie, die Waffe im Anschlag, »Hände hoch, Polizei!«, brüllte er und schwenkte die Waffe umher auf der Suche nach dem Ziel, dem richtigen Ziel.
Er erntete einen kollektiven Aufschrei: Ein wütendes »Mann ey« von hinten, ein mäßig erstauntes »Na so was« von dem Kerl, der den Kampfhund abgestochen hatte, und ein erschrecktes, lang gezogenes »Ah« von Marilene, dem erst im Abklingen grenzenlose Erleichterung anzuhören war. Lediglich Antonia blieb stumm. Aber sie stand, war wohlauf anscheinend, gottlob, und sie starrte ihn an aus Augen, die schon alles gesehen hatten und die nichts mehr erschüttern konnte. Erst als er Herzog entdeckte, der vor einem Sessel auf dem Boden lag und dem jemand das Hirn zerschossen hatte, verstand er und ließ die Waffe sinken, steckte sie ein, holte sein Handy hervor und rief Lübben an.
15
Marilene stand an Deck und schaute aufs Meer. Am frühen Morgen war der Wind, nachdem er alle Wolken in die einstweilige Verbannung geschickt hatte, so plötzlich abgeebbt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die Sonne blendete vom milchig blauen, noch ein wenig bleichen Himmel, die See war spiegelglatt, der Sturm von gestern vergessen oder nie gewesen, ein Schreckgespinst, das kaum mehr zum Ausschmücken von Seemannsgarn taugte.
Ihr innerer Aufruhr verging nicht ganz so schnell, und sie war dermaßen müde, dass sie Paul und Olaf bei Antonia in der Kabine zurückgelassen hatte, um frische Luft zu
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