Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
würden die Techniker ein weiteres Wühlen an der Fundstelle eher nicht begrüßen.
»Taschenlampe!«, brüllte er, revidierte die Forderung, sobald der Wald sich um sie schloss, »Autoscheinwerfer!«, schrie er über die Schulter, während schon Schwärze ihn umfing, dumpf und bedrohlich. Kein Wunder, dass der Junge den Hund allein hatte laufen lassen. Zweige peitschten sein Gesicht, und er kniff die Augen zusammen, konnte ohnehin kaum etwas erkennen und verließ sich auf Balou, jedenfalls was die Richtung anbelangte, doch der Boden war uneben, er stolperte und strauchelte, fing sich wieder, und weiter ging es. Er hatte gar nicht gewusst, dass er noch so schnell laufen konnte, nicht schlecht für sein Alter, aber lange würde er nicht durchhalten, sein Atem ging rasselnd und stoßweise, seine Füße schlugen einen dumpfen Rhythmus, untermalt vom Knacken brechender Zweige, und sein Herz schlug ihm bis zur Schädeldecke.
Wie stellt man den Hund ab?, überlegte er panisch, ihm fiel kein einziges Kommando ein. »Ruhig«, keuchte er und vermeinte zu erkennen, wie Balou sich geringschätzig nach ihm umdrehte, etwas wie »Schlappschwanz« auf der heraushängenden Zunge, das war der Ruf für Pferde, erinnerte er sich vage. Komm, Miez, Miez, schoss es ihm durch den Kopf, lächerlich und obendrein verdammt unnütz in dieser Situation, doch plötzlich dämmerte es ihm: »Sitz!«, brüllte er mit letzter Kraft.
Wow, das funktioniert, freute er sich, obgleich er bereits in hohem Bogen über den Hund hinwegflog. Er landete nicht allzu hart, jedoch so schwungvoll, dass er sich mehrmals überschlug und schließlich in einer Mulde zu liegen kam.
»Wo bist du?«, rief Lübben aus einiger Entfernung.
Balou bellte zufrieden.
Zinkel sparte sich eine Antwort. Er rang nach Luft und wagte nicht, sich zu bewegen, sortierte im Geiste erst einmal seine Knochen. Alles dran, alles weitgehend heil, glaubte er. Er hörte Lübbens Schritte näher kommen und wälzte sich herum. Und fand sich einem Schädel gegenüber, der ihn im kümmerlichen, unsteten Licht von Lübbens Taschenlampe anzustarren schien. Er unterdrückte knapp einen Aufschrei. »Huch«, stöhnte er und beeilte sich, auf die Beine zu kommen. Nicht auszudenken, wenn die Geschichte die Runde machte.
* * *
Antonia saß auf Kathrins Bett und wendete den Brief hin und her. Was, wenn etwas drinstand, das sie absolut nicht wissen wollte? Das ihr Leben völlig auf den Kopf stellte? Mehr noch als die Hochzeit? Das war schon hart genug gewesen, eine Tortur, von der sie wünschte, sie hätte sich ihr nicht ausgesetzt. Dann hätte sie sich vielleicht einreden können, es sei nicht wirklich geschehen.
Die Tür zum Trauzimmer hatte geknarrt, und beinahe hätte sie sie von außen wieder zugezogen. Aber drin war alles still gewesen, das war ihr komisch vorgekommen, womöglich, hatte sie überlegt, war sie am falschen Ort, und es war niemand da. Oder das Ganze war abgesagt worden, in letzter Minute, von ihrer Mutter, die doch noch erkannt hatte, dass ein Leben allein dem mit Frank vorzuziehen war. Oder von Frank, der – ihr fiel nichts ein, warum er einen Rückzieher hätte machen sollen. Er war es, der das große Los gezogen hatte. Nicht ihre Mutter, obwohl die das zu glauben schien. Ihr seliges Lächeln war ihr als Erstes aufgefallen, als sie doch hineingegangen war. Ein Lächeln, das nicht ihrer Tochter gegolten hatte oder irgendeinem gemeinsam ausgeheckten Unfug, den sie manchmal angestellt hatten, wenn sie ausgelassen, ja verwegen waren, weil gerade alles gut lief. In dem Moment hatte sie sich betrogen gefühlt und sogleich ein schlechtes Gewissen deswegen bekommen. Vielleicht irrte sie sich, täuschte sich in Frank, vielleicht würde alles gut werden. Wenn sie nur fest genug daran glaubte. Wenn sie sich richtig Mühe gäbe, ihm nicht dauernd auf die Zehen zu treten. Sie musste es wenigstens versuchen, hatte sie sich gut zugeredet.
Frank hatte einen auf verliebt gemacht. Er war verliebt, hatte sie sich korrigiert, kein Wunder: Ihre Mutter hatte umwerfend ausgesehen, das Kostüm war neu, echt ein Knaller, und wie sie gestrahlt hatte, das musste man mit eigenen Augen gesehen haben. Und plötzlich hatten sie sich schon die Ringe aufgesteckt, und der Standesbeamte hatte »Sie dürfen die Braut jetzt küssen« gesagt, was er natürlich auch gemacht hatte. Sie hatte versucht, nicht hinzusehen, das war so peinlich gewesen, aber sie hatte es nicht geschafft und mitbekommen, wie ihre Mutter
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