Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Spaziergang zu unternehmen, auch dies etwas, das nicht zu ihren bisherigen Gewohnheiten gehört hatte. Vielleicht, überlegte sie, lag es daran, dass sie allein lebte, und zu Spaziergängen gehörten ihrer Meinung nach zwei. Ach was, im Dunkeln würde es schon gehen, überredete sie sich, bevor sie es sich anders überlegte, schnappte sich Handtasche und Jacke und verließ das Haus.
Die Luft war noch mild, trotzdem zog sie ihre Jacke über und schlug den Weg Richtung Innenstadt ein. Es roch überhaupt nicht nach nahendem Winter, fand sie, nicht mal nach Herbst, obgleich die Bäume sich schon ihres Laubs entledigten und ihre schütteren Kronen gen Himmel reckten, eigenartig unbeholfen wirkend. Eine Gruppe johlender Jugendlicher kam ihr entgegen, und Marilene umklammerte ihre Handtasche und schritt schneller aus. Halbstarke, erkannte sie im Näherkommen, kurz geschorenes Haar, Leder, Ketten, Stiefel – ihr Spaziergang war keine gute Idee gewesen. Einer von ihnen zog einen Bollerwagen hinter sich her, in dem Bierkästen ihrer baldigen Leerung entgegenschepperten. Ein vielstimmiges »Moin« beschwichtigte ihre erlernten Ängste, und sie entspannte sich. In Wiesbaden zogen nachts ganze Horden junger Leute durch die Altstadt, und sie war immer bestrebt gewesen, ihnen aus dem Weg zu gehen, da sie es schwierig gefunden hatte, große Gruppen auf einen Blick einzuschätzen. Es irritierte sie fast, dass hier nun die fragwürdigsten Gestalten sie grüßten.
Ganze drei Autos fuhren den Ostersteg entlang. Dies Verkehr zu nennen wäre stark übertrieben, war geradezu Einöde für jemanden, der es gewohnt war, dass Motorenlärm als Einschlafkulisse diente und selbst in den frühen Morgenstunden nie vollständig verebbte. Auch die Parkplätze am Rande der Fußgängerzone waren verwaist, und nur einige wenige Radfahrer huschten an Marilene vorbei. Überhaupt schien die Stadt bereits zu schlafen, die meisten Fenster starrten finster vor sich hin, lediglich hier und da flimmerte noch ein Fernseher. Marilene gähnte. Eigentlich war sie hundemüde, erschöpft von der anstrengenden Woche mit Arne und dem ersten Arbeitstag seither. Sie sollte ins Bett, statt zu nach hiesigen Gepflogenheiten nachtschlafender Zeit durch die Gegend zu streifen. Nur ein kurzer Blick aufs Wasser, widersprach sie ihrer Vernunft und durchquerte eilig die Fußgängerzone.
Die Uferpromenade war menschenleer, soweit sie das erkennen konnte. Das in der Dunkelheit ölig wirkende Wasser plätscherte leise gegen den Kai, und irgendwo quakte eine Ente wie im Schlaf murmelnd. Ein Gänseschwarm zog schnatternd über den nächtlichen Himmel, mit schrillem Schrei nach Süden, geisterte ihr eine Liedzeile durch den Kopf, oder war es Norden? Auf jeden Fall auch eine Art, Fluglärm zu veranstalten, dachte Marilene. Die Rufe verklangen, ein fernes Echo noch, und schon herrschte wieder Stille.
Gegenüber, auf der Nesse, ragten die klotzigen Silhouetten der neuen Gebäude empor, deren Wohnungen schon wegen der Aussicht begehrt, aber unbezahlbar waren. Im Februar, als sie wegen der Kanzleinachfolge in Leer gewesen war, hatte sie eine von ihnen zu Gesicht bekommen, doch der Eindruck war vage geblieben und von Schrecken überschattet. In einem der Häuser brannte im oberen Stockwerk Licht. War es das, in dem sie Inka Morgenroth besucht hatte? Sie verwarf den Gedanken, hinüberzugehen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Wenn es Inka war, die dort lebte, wollte sie sicherlich nicht an die Ereignisse von damals erinnert werden. Wahrscheinlicher war sowieso, dass sie ihre Wohnung verkauft hatte und fortgezogen war. Es gab nichtigere Gründe für einen Umzug, sie selbst war der Beleg dafür.
Sie wandte sich nach links Richtung Nesse-Brücke, wollte bis zur Tourismus-Zentrale laufen und dann über den Denkmalsplatz zurück nach Hause. Gedankenverloren schlenderte sie weiter und wäre beinahe in ein mitten auf dem Weg abgestelltes Fahrrad hineingelaufen. »Welcher Depp«, hub sie an zu schimpfen und verstummte, als sie die mutmaßliche Eigentümerin des Rades entdeckte.
Das Mädchen kauerte mit angezogenen Knien und gesenktem Kopf auf einer Bank. Sie hielt etwas Weißes in Händen, ein Stück Papier, vermutete Marilene, oder ein Taschentuch, und sie wirkte so abgrundtief traurig, dass sie unmöglich einfach weitergehen konnte. Auf jeden Fall war sie zu jung, um sich hier nachts allein aufzuhalten, fünfzehn, bestenfalls sechzehn Jahre, schätzte sie. »Kann ich was für
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