Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
müde zu kriegen.«
Er hob ihren Kopf und küsste sie, hart, gierig, sie bekam kaum Luft, und ihre Hände flatterten über seine Schultern. Liebe, dachte sie und fühlte sich begehrt wie nie. Dann drehte er sie um und drückte sie, nach vorn über die Sofalehne. Sie vermeinte, ein Maunzen von jenseits der Terrassentür zu hören, Laute, die unmöglich von ihr kommen konnten, und im Geiste sah sie diese Bernsteinaugen, die ungerührt verfolgten, was hier geschah. Nur gut, dass Antonia nicht im Haus war, dachte sie, die würde das völlig falsch verstehen.
* * *
»Danke«, sagte Antonia, »das ist echt nett von Ihnen, dass Sie mich mitgenommen haben und dass ich hier pennen darf.« Das Mädchen steckte, frisch geduscht, bereits im Schlafanzug und saß im Schneidersitz auf der Couch; eine Hand umklammerte eine Tasse mit heißem Kakao, mit der anderen hielt sie die Decke um ihre Schultern fest.
»Nichts zu danken«, entgegnete Marilene, »seien wir nur froh, dass dich kein fieser Kerl aufgegabelt hat.«
»Ach, mir wär schon nichts passiert.«
Marilene verdrehte die Augen, den Spruch kannte sie nur zu gut. Warum glaubten junge Menschen immer, sie seien unverwundbar, Katastrophen ereigneten sich nur im Fernsehen, und Blut war nicht Blut, sondern Ketchup? Sie wusste, jede gut gemeinte Warnung stieße auf taube Ohren, also verzichtete sie darauf. »Magst du mir nun sagen, was dich bedrückt?«, fragte sie.
Antonia kniff die Augen zu und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück.
»Kipp mir bloß nicht wieder vornüber«, bat Marilene, »mit dem Tisch vor dir geht das nicht so glimpflich ab wie dein unfreiwilliges Bad vorhin.« Wenigstens war die Brandwunde, soweit sie das beurteilen konnte, nicht allzu schlimm. Sie hatte in ihrem Medizinschränkchen wider Erwarten eine nur knapp abgelaufene Brandsalbe gefunden, sie aufgetragen und ein Pflaster darübergeklebt, das sollte genügen. »Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich Anwältin bin«, versuchte sie, Antonia die Scheu zu nehmen, »nichts von dem, was du mir erzählst, muss diesen Raum verlassen, wenn du das nicht willst.«
Antonia öffnete die Augen. »Das ist es nicht. Ich weiß nur irgendwie nicht, wo ich anfangen soll.«
Tränen, oje. Marilene bemühte sich um einen lockeren Tonfall. »Wie wär’s dann mit dem Brief?«, schlug sie vor. »Deine misslungene Brandstiftung legt nahe, dass etwas darin stand, was dich ziemlich durcheinandergebracht hat. Zumal du ihn dann doch so sorgfältig wieder eingesteckt hast.«
Antonia stand auf und ging ins Gästezimmer. Marilene konnte hören, wie sie schniefte und sich die Nase putzte. Als sie zurückkam, versuchte sie sichtlich, Haltung zu bewahren, und wirkte dadurch umso jünger und schutzloser.
»Du siehst aus wie ein Beduine mit der Decke da.«
»Das sind die aus der Wüste, oder?« Antonia reichte ihr den an den Rändern verkohlten Brief.
»Nomaden«, fügte Marilene hinzu – viel mehr wusste sie selbst nicht – und setzte ihre Brille auf.
Wenn du wissen willst, wie du zu deiner »Tochter« gekommen bist, dann komm zum Parkplatz an der Evenburg. In einer halben Stunde. Einer, der es besser weiß.
»Wo hast du das her?«, fragte sie und legte das Blatt auf den Tisch.
»Hab ich zufällig im Schreibtisch meiner Mutter gefunden. Ehrlich«, beteuerte sie, als hätte Marilene sie getadelt, »ich hab bloß einen Umschlag gesucht, und dabei ist mir eine von den Schubladen rausgefallen. Dahinter war er versteckt.«
»Der Brief ging aber doch an deinen Vater, denke ich, denn deine Mutter wird ja wohl wissen, wie sie zu dir gekommen ist. Warum also hat sie den Brief?«
»Mein Vater, also der, von dem ich dachte, er wär’s«, stammelte Antonia, »er ist vor fünf Jahren abgehauen. Ohne ein Wort. War einfach weg. Auch seine Klamotten, einfach alles. Wahrscheinlich hat er den Brief liegen gelassen. Um es zu erklären? Keine Ahnung. Ich war mit meiner Mutter in Oldenburg an dem Tag, und danach hab ich mich gleich mit meiner Freundin getroffen. Als ich nach Hause gekommen bin und gerufen hab, da hat keiner geantwortet, Mama nicht und Papa auch nicht. Sonst waren die immer zusammen in der Küche, wenn ich nach Hause gekommen bin, aber die war leer, und es gab auch nichts zu essen. Und dann hab ich so Geräusche gehört«, Antonias Stimme drohte zu kippen, »aus dem Schlafzimmer, da lag meine Mama auf dem Bett und hat geheult, Rotz und Wasser, echt, ich hab gar nicht gewusst, was ich machen soll, und als ich gefragt
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