Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
hatte, war nicht länger von Bedeutung, und das andere hatte sie nun schon so lange vor aller Welt verbergen können, warum sollte ihr das nicht weiterhin gelingen? Alles war gut.
Vorsichtig wand sie sich unter Franks Arm heraus, drehte sich auf den Rücken und atmete tief ein und aus. Schäfchen hüpften flink über einen Zaun, eins, zwei, siebzehn, zählte sie und versuchte ein Gähnen. Es half nichts. Sie war hundemüde, aber viel zu aufgedreht, um schlafen zu können. Leise stand sie auf, tappte zum Schlafzimmer hinaus und in die Küche. Dort erst schaltete sie das Licht ein. Sie füllte den Wasserkocher, stellte ihn an und reckte sich nach Antonias »Wundertütendose«, in der die jeweils letzten ein, zwei Teebeutel einer Packung landeten, um Platz für die neue Schachtel zu schaffen. Ob sie dann nicht eigentlich Wunderbeuteldose heißen müsse, hatte sie sich seinerzeit bei ihrer Tochter erkundigt. Ja, schon, aber das klinge doch total bescheuert, hatte die befunden. Die Erinnerung brachte sie zum Lächeln. Sie kramte in der Dose herum, zog verschiedene Beutel heraus und schnupperte daran. Pfefferminz, zu frisch, schwarzer Tee würde sie weiter aufputschen, hier, der rötliche, ein Früchtetee, das war das Richtige. Sie fand ihren Lieblingsbecher, goss das heiße Wasser auf und löschte das Licht.
Es war nicht vollständig dunkel, sie ließ die Jalousie zur Straße hin nur selten herab, und die eine Straßenlaterne, die die ganze Nacht über brannte, stand vor dem Nachbarhaus und spendete ausreichend Licht, um sich einigermaßen zurechtzufinden. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis ihre Augen sich wieder an die Nacht gewöhnt hatten. Sie nippte an ihrem Tee, viel zu heiß noch, befand sie, und schaute zum Fenster hinaus. Der fette schwarze Kater von schräg gegenüber stolzierte über die Straße, kam die Einfahrt herauf, blieb kurz auf drei Beinen stehen, allein um sie niederzustarren mit seinen Bernsteinaugen, bevor er sich abwandte und so gelassen in ihrem Garten verschwand, als sei es sein eigener. Sie schlich sich hinüber ins Wohnzimmer und stellte sich an die Terrassentür.
Der halbe Mond hing wie gelangweilt am Himmel herum, sparsam mit seinem Licht. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not, erinnerte sie sich an eine der Redensarten, die ihre Großmutter so gern in Gespräche eingestreut hatte, und vielleicht flüsterte die gerade ebendiese Worte in sein Ohr da oben. Sie wüsste zu gern, ob die Hochzeit heute ihr Wohlgefallen gefunden hätte. Bestimmt, vermutete sie, letztlich war ihr immer alles recht gewesen, was ihre Enkelin glücklich gemacht hatte. Womöglich hätte sie sich an Franks Verhältnis zu Antonia gestört, aber Antonia würde bald erwachsen sein und das Haus, wenn nicht die Stadt verlassen, dann wäre sie allein gewesen. Alleinsein vertrug sie nicht so gut. Wenn es sich ankündigte, lag es ihr schon Tage vorher backsteinschwer im Magen, und Antonias Klassenfahrten zu verkraften war ihr mit jedem Mal nicht leichter, sondern stetig schwerer gefallen.
Im Garten bewegte sich etwas. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte den Kater, der hektisch in der Erde vor dem Perückenstrauch scharrte. Plötzlich hielt er inne, eine Tatze geziert erhoben und, wüsste sie es nicht besser, anmutend wie eine englische Lady beim Tee. Wehe, du legst mir deine Beute wieder vor die Tür, drohte sie gedanklich. Sie hasste es, Mäuse- oder Vogelleichen wegräumen zu müssen; bei Tieren, die die Größenordnung von Spinnen übertrafen, hörte der Spaß auf. Wo der Staubsauger versagte, musste der Spaten her: Sie hatte ganz hinten links in der Ecke eigens ein Grab angelegt, das sich mittlerweile zum reinsten Massengrab entwickelt hatte. Wäre er einfach so gefräßig, wie seine Statur nahelegte, wäre sie ihm gewogener, doch sie argwöhnte, dass ihn die pure Lust am Töten antrieb. Ab sofort würde hoffentlich Frank die unwillkommenen Gaben entsorgen.
Eine Diele im Flur knarrte, und sie fuhr herum.
»Hab ich zu laut geschnarcht?«, erkundigte sich Frank.
»Ach nein.« Sie ging zu ihm und umfing ihn mit den Armen. »Ich kann bloß nicht schlafen. Es ist so ungewohnt, jemanden neben mir zu haben. Vielleicht hätten wir das öfter üben sollen«, flachste sie.
Er ging nicht darauf ein. »Du kannst ruhig im Bett lesen, wenn du nicht schlafen kannst. Stört mich nicht.«
»Keine Lust«, sagte sie leichthin und vergrub ihr Kinn in seiner Halsbeuge.
»Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen, um dich
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