Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
loszuwerden, den Schwindel, der sie von den Füßen zu holen drohte. Sie wollte etwas sagen, etwas Kluges, etwas, das Jenny ein für alle Mal zum Schweigen bringen würde, doch ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, und sie bekam kein einziges Wort heraus. Wissen ist Macht, fuhr es ihr durch den Kopf, ihr Motto, der Satz, der Kathrin und sie stets zu beflügeln vermochte, wenn es galt, schwierigen Stoff zu lernen, dessen Sinn sich ihnen nicht oder noch nicht erschloss, ein Satz wie ein Achselzucken, es muss halt sein, oder wie ein Startschuss beim Hundert-Meter-Lauf. Marathon, korrigierte sie sich. Nur, was nützte einem alles Wissen der Welt, wenn man es nicht in Worte fassen konnte? Was nützte einem alle Macht der Welt, wenn man gegen Dummheit doch nicht ankam?
Sie starrte hinunter auf ihre geballten Fäuste und wünschte, sie wäre dumm genug, sie auch zu benutzen. Einmal nur. Ein einziges Mal nicht so tun, als machte einem das alles nichts aus. Ein einziges Mal sich wehren, statt zu kuschen vor Angst, alles noch viel schlimmer zu machen. Sie wandte sich ab.
»Aua!«, schrie Jenny plötzlich.
Antonia fuhr erschrocken herum.
»Du spinnst wohl total?!« Jenny brüllte wie am Spieß und hielt sich die Wange.
Antonia schüttelte verständnislos den Kopf.
Im Nu waren sie beide umringt von Mitschülern, allen voran Jennys Freundinnen, die sich gegenseitig in die Rippen stießen und hämisch grinsten. Wie die Hyänen, dachte Antonia, und ich bin die Beute. Erleichtert bemerkte sie, dass Hellmich, der Englischlehrer, sich einen Weg durchs Gewühl bahnte.
»Was ist hier los?«, fragte er.
»Die hat mich geschlagen!«, kreischte Jenny hysterisch, bevor sie sich besann und ihre Stimme auf ein Schluchzen hinunterschraubte. »Die ist echt so was von durchgeknallt.« Sie ließ die Hand vom Gesicht sinken.
Die sich bereits blau färbende Beule, die Jenny offenbarte, verschlug Antonia endgültig die Sprache.
»Ab zum Direktor«, knurrte Hellmich, »alle beide.«
* * *
»Christian Körber vielleicht«, sagte Siebenhaar, ohne groß zu überlegen.
Sollte es so einfach gewesen sein, das Skelett zu identifizieren? Paul Zinkel war skeptisch und wartete auf eine Begründung.
»Wenn ich ihn nicht vom Tennis gekannt hätte, wär das schwierig geworden«, erläuterte Siebenhaar.
Schon Siebenhaars Name war ein Euphemismus: Nicht ein einziges Haar spross auf dessen Kopf, abgesehen von seinen allzu buschigen Brauen. Aber Tennis? Zinkel musterte ungläubig die unübersichtliche Körperfülle des Mannes und schaffte es gerade noch, ein Augenrollen zu verhindern.
»Wer merkt sich schon jeden geplatzten Termin?«, fuhr Siebenhaar fort.
Genau das hatten die vier Zahnärzte, die Zinkel an diesem Morgen bereits aufgesucht hatte, auch angemerkt. Und ihn vertröstet: Die Nachforschung könne Tage dauern. Das hier nun war ein unerwartet schneller Erfolg ihrer Suche, die ebenso gut im sprichwörtlichen Heuhaufen hätte enden können.
»Warten Sie, ich schau mal nach den Röntgenaufnahmen, das hilft Ihnen sicher weiter.« Siebenhaar sprang überraschend schwungvoll auf und verließ das Sprechzimmer.
Zinkel erwog, Lübben anzurufen, der die Praxen im Umkreis übernommen hatte, vorgeblich, weil er sich besser auskannte. Tatsächlich dürfte er jedoch so entschieden haben, weil die Fahrerei bedeutete, dass er entschieden weniger Zeit in einer Umgebung verbringen musste, die sie beide gleichermaßen verabscheuten.
Dies Sprechzimmer immerhin war eine angenehme Abwechslung. Die anderen Zahnärzte hatten ihn in einen Behandlungsraum gebeten, wo er sich angesichts all der Folterinstrumente schwer hatte zusammennehmen müssen, um überhaupt ein Wort hervorzubringen. Einmal hatte sich gar ein armer Teufel würgend auf dem Stuhl gewunden, da die Zahnärztin ungerührt einen Abdrucklöffel an Ort und Stelle presste, während sie sich mit Zinkel unterhielt. Eine ziemlich einseitige Unterhaltung; er musste eine grünliche Gesichtsfarbe angenommen haben, denn der Patient hatte seine eigenen Unbilden offensichtlich vergessen und Mitleid verströmt. Oder er war verstorben. Zinkel war nicht geblieben, um das herauszufinden.
Er würde Enno nicht anrufen, entschied er, schließlich war noch nichts bewiesen.
Siebenhaar stürmte das Zimmer, als sei er auf der Flucht vor einem rachsüchtigen Patienten. »Da haben wir’s«, trompetete er fröhlich, ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen, dass dem Sitz mit einem zweideutigen Geräusch die Luft entwich,
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