Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
fügen, was vor bald dreißig Jahren bereits hätte in Erfüllung gehen müssen. Vielleicht hatten die Umwege ihren Zweck erfüllt und letztlich nur dazu gedient, ihn auf das Hier und Jetzt vorzubereiten.
Marilenes Desinteresse an ihm damals hatte bewirkt, dass er an seinem Äußeren gearbeitet hatte, hart gearbeitet, aber mit nicht wenig Erfolg, wie die begehrlichen Blicke zeigten, die ihm seither zuflogen wie die Wärme eines Lagerfeuers, herangeweht vom Nachtwind.
Die Jahre in Australien hatten ihn finanziell unabhängig gemacht, sodass er tun und lassen konnte, was er wollte. Wie hatte er zunächst geflucht, als Cindy ihn angezeigt hatte und er zurück nach Deutschland hatte fliehen müssen, wo sich leider seine Spur verloren hatte. Melanie war ungleich cleverer gewesen, ihre Anzeige hatte ihn kalt erwischt, und er hatte einer Gerichtsverhandlung wegen Stalkings nicht entgehen können, der Therapie zugestimmt, um einer Strafe zu entgehen, und unterdessen glühende Rachepläne geschmiedet. Die sich augenblicklich in Luft auflösten, als er Marilene in Lindenaus Wartezimmer gesehen hatte. Er war regelrecht elektrisiert gewesen, getroffen wie von einem Blitzschlag aus wenig heiterem Himmel, ein überaus erhebender Moment.
Ein jegliches hatte seine Zeit. Und es war die Zeit des Pläneschmiedens gekommen, Pläne, die er mit jedem neu auftauchenden Hindernis wieder und wieder hatte überarbeiten müssen – wie Niklas, der bei ihr eingezogen war, oder ihre merkwürdige Beziehung zu dem Polizisten. Doch dann war Lindenau ums Leben gekommen, und alles, alles hatte sich gefügt, einem göttlichen Puzzle gleich. Lindenaus Witwe hatte ihm die Identität als Mitarbeiter einer Krankenkasse fraglos abgenommen, sodass er seine Akte aus der Praxis hatte verschwinden lassen können. Um eventuelle Spuren zu verwischen, hatte er sich nicht mit seiner eigenen begnügt. Ein paar weitere Therapiegenötigte waren ihm zutiefst dankbar gewesen und hatten ihm das Blau des Himmels als Gegenleistung versprochen. Vielleicht würde er eines Tages darauf zurückkommen; Kopien hatte er zur Untermauerung gezogen, denn Dankbarkeit verfügte über ein allzu kurzes Gedächtnis.
Das Beste an seiner Erfahrung mit der Psychologie jedoch war, dass er nun wirklich alles über Stalking wusste, ein inflationärer Begriff allerdings, den er nicht sonderlich schätzte; er war nie ein Stalker gewesen, egal, was man behauptete, Cindy, Melanie, der Richter, sie alle hatten keine Ahnung. Er war ein Liebender.
Wie hatte er frohlockt, als er ihrer Umzugspläne gewahr geworden war! Ihm schien, auch dies war nur geschehen, um ihm den Weg zu ebnen. Endlich war sie fort aus ihrer gewohnten Umgebung, fort von all den Menschen, die sie so oft belagert hatten. Sie war noch nicht wirklich angekommen in Ostfriesland, pflegte keine nachbarschaftlichen Kontakte und ging selten aus, abgesehen von gelegentlichen Spaziergängen. Sie war einsam. Die Kinder, die sie um sich scharte, dürften das kaum auffangen können. Mit denen würde er schon fertigwerden, zumal ihre Besuche durch Schule und Uni zeitlich begrenzt waren. Nur dieser Computer-Fuzzi beunruhigte ihn ein wenig. Er hatte dermaßen viel Gepäck aus diesem lächerlichen Wagen geladen, dass man fast meinen könnte, er zöge in die leer stehende Wohnung oberhalb von Marilenes. Einerlei, beschwichtigte er sich, sobald er das nächste Mal in ihre Wohnung gelangte, würde alles Weitere problemlos über die Bühne gehen. Sie befanden sich bereits in der Mitte des ersten Aktes, und er hielt alle Fäden in der Hand. Er war der Regisseur.
4
Schule wäre keine schlechte Sache, wenn man dafür nicht so grottenfrüh aufstehen müsste, dachte Antonia. Und wenn man um die Pausen herumkäme. Sie konnte das Gekreische echt nicht mehr ab. Blöde Tussen, die sich zusammenrotteten, um das Wochenende durchzuhecheln, ihre umwerfenden Erlebnisse mit Jungs. Wie sie ihre gefärbten Mähnen über die Schultern schleuderten. Wie sie hysterisch gackerten bei den intimsten Details. Als wenn es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, als flachgelegt zu werden von irgendeinem pickligen Volltrottel. Lauter Loser. Sie schnaubte verächtlich, ließ sich auf einer der verwaisten Bänke nieder und wickelte ihr Pausenbrot aus.
Wo war Kathrin? So was Ödes war nur zu zweit zu ertragen, aber sie war heute nicht zur Schule gekommen. Dabei fehlte sie sonst nie, nicht mal mit der fettesten Erkältung. Sie würde doch wohl nicht glauben, dass sie
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