Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Vielleicht würde Kathrin das genauso sehen können, wenn sie erst erfuhr, dass sie nicht die Einzige war, die große Probleme hatte und nicht darüber reden wollte.
Das erinnerte sie an die Anwältin. Sie sollte sie informieren. Sie sprang auf, holte deren Visitenkarte aus ihrem Rucksack und tippte die nächste SMS : »Christian ist tot. Hab Schulverweis/Hausarrest/Kontaktverbot. Im Moment keine Anwältin nötig.« Sie hob den Kopf, Schritte auf der Treppe? Hätte sie bloß abgeschlossen vorhin. »Kann sich ändern«, fügte sie noch hinzu, » LG Antonia.« Und weg damit, feuerte sie sich an, vergewisserte sich, dass sie das Handy stummgeschaltet hatte, und stopfte es hastig zwischen Matratze und Bettrahmen, keine Sekunde zu früh. Die Tür wurde geöffnet, so lautlos, dass es sie wunderte, zuvor die Schritte gehört zu haben.
»Was machst du?«, fragte Frank.
»Mich bemitleiden«, knurrte sie.
»Dazu hast du noch keinen Grund.«
Noch? Sie fuhr hoch, was sollte das denn heißen? Sie wollte schon kontern, suchte nach einer passenden Erwiderung und ließ es dann doch. Sie würde sich nicht so verhalten, wie er es erwartete, beschloss sie und fand sich sehr weise. Sie stand auf und stellte sich ans Fenster. »Was willst du?«, fragte sie gegen die Scheibe gerichtet.
»Dir etwas klarmachen.«
»Ach ja?«
»Je ungebührlicher du dich verhältst, desto mehr leidet deine Mutter.«
Das klang wie eine knallharte Drohung. Ihr reichte es. Wenn er meinte, ihr drohen zu müssen, sollte er wenigstens Klartext reden. Sie wandte sich um. Er schaute nicht sie an, sondern blickte zu ihrem Bett. Oh Mist!
»Ach, da ist mein Handy!«, rief sie geistesgegenwärtig.
Frank bückte sich danach. Sie versuchte, ihm zuvorzukommen, stürzte herbei und streifte ihn, nicht hart, doch er verlor das Gleichgewicht und fiel aufs Bett, dass die Federn quietschten. Seine Geldbörse rutschte aus der Brusttasche seines Hemdes, wo er sie zu tragen pflegte, als wolle er jedem zeigen, wie prall gefüllt sie war, und landete auf dem Boden. Seine Kartensammlung und ein Haufen Münzen fielen heraus, und diesmal war Antonia die Schnellere. Sie hockte sich hin, sammelte alles ein und hielt es in die Höhe. So wie er das Handy. »Tausch dich«, sagte sie und gab sich ein wenig albern, hoffend, dass er sich darauf einließ und nicht las, was sie geschrieben hatte.
Er musterte sie mit nachdenklicher Miene. Viel zu lange, fand sie und setzte noch einen drauf: Sie grinste. Oje, das war zu viel, fürchtete sie, Grinsen war was für Freunde, wenigstens für Leute, die sich leiden konnten, und beides traf ganz sicher nicht zu, doch schließlich hielt er ihr die Hand entgegen. Er öffnete seinen Griff Finger um Finger, bis sie nach dem Handy schnappte. Dann erst reichte sie ihm die Geldbörse.
»Danke fürs Aufsammeln«, sagte er, stand auf und warf ihr einen letzten zweifelnden Blick zu, bevor er das Zimmer verließ und sogar die Tür schloss.
5
»Ich rede«, wiederholte Marilene und blickte Gerrit durchdringend an, bevor sie an der Tür klingelte.
»Ja, ja, ich bin bloß der Azubi und obendrein etwas unbedarft, richtig?« Gerrit schloss die Lider halb und klappte den Unterkiefer hinab, was ihm etwas glaubhaft Debiles verlieh.
»Übertreib nicht, ich warne dich«, sagte sie streng und schüttelte die Beine aus, die nach der langen Fahrt in Gerrits Mini noch immer kribbelten, trotz der Pause eben. Das Gefährt war kein Auto, sondern eine rollende Foltermethode für jeden über dreißig, der nicht kleinwüchsig war. Gerrits Argument allerdings, die Altersschwäche ihres Wagens betreffend, hatte sie nicht widerlegen können, und so hatte sie nachgegeben, als er schier darum gebettelt hatte, sie nach Neustadt fahren zu dürfen.
Sie war keine gute Beifahrerin, doch seine Fahrweise war überraschend umsichtig gewesen, und wenn sie besser hätte sitzen können und die elenden Baustellen auf der A 1 nicht gewesen wären, hätte sie die Reise sogar genossen, die Musik vom USB -Stick, ihre Musik, Emmylou Harris, Trisha Yearwood, Willie Nelson. Sie glaubte nicht recht, dass sein Geschmack rein zufällig dem ihren ähnelte, aber sie konnte sich nicht erinnern, je mit ihm über Musik gesprochen zu haben. Er kannte sogar ein paar der Texte, hatte gelegentlich mitgesungen, und nicht mal schlecht. Ihre verwunderten Blicke hatte er durchaus bemerkt, jedoch schlichtweg ignoriert. Wahrscheinlich hatte er von Lothars hellseherischen Fähigkeiten profitiert, hatte sie
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