Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
zu.
»Ha, das ist eine Fähigkeit, die er nicht weitergeben möchte, und glaub mir, ich habe gefragt.« Er legte eine besonders treuherzige Miene auf. »Aber du bist wie ein offenes Buch für mich«, behauptete er und verneigte sich gar formvollendet, ein Musketier, der blitzschnell wieder in die Rolle ihres tumben Begleiters wechselte, als klackende Absätze das Herannahen der Hausherrin ankündigten.
»Sie sind an der falschen Adresse, hier gibt es keine Lilian.«
»Es geht um eine Erbschaft«, sagte Marilene und unterließ es ebenfalls, sich vorzustellen. »Sie wissen nicht zufällig, wo ich sie finden könnte?« Sie entsann sich des Märchenbuchs aus Kinderzeiten mit dem Bild der Schneekönigin: Alles an dieser Frau war weiß, der seidene Anzug, die hochhackigen Schuhe, ihre faltenfreie, glatte Haut, die kaum je ein Sonnenstrahl gestreift haben dürfte, und sogar ihr Haar, das sie schulterlang und glatt trug und das wie ein Helm oder eine Fliegermütze wirkte.
»Nein, auf Wiedersehen.«
Na toll. Marilene stöhnte innerlich. Wollte sie nicht von ihrer Legende abrücken und preisgeben, dass sie durchaus wusste, wo Lilian zu finden war, würde zu insistieren hier überhaupt nichts bringen. Die Frau war die personifizierte Abwehr, und sie hoffte, der Bruder wäre auskunftsfreudiger. Sofern sie ihn anträfen.
»Ich gehe davon aus …«, entgegnete sie, doch die Bemerkung traf ins Leere. Tewes stemmte nur die diamantberingten Hände in die magersüchtigen Hüften, darauf wartend, dass der ungebetene Besuch von ihrer Türschwelle verschwand.
»Nagellack finde ich ja eh nicht so prickelnd«, sagte Gerrit, sobald sie im Wagen saßen und er zurücksetzte, »aber in Weiß ist er ein Grund, die Finger von einer Frau zu lassen.«
»War das überhaupt eine Option?« Marilene gab sich verwundert. »Alters- und Klassenunterschiede wären vielleicht das größere Hindernis, meinst du nicht?«
»Ich bevorzuge reifere Frauen nun mal.« Er warf ihr einen sündigen Blick zu. »Weißt du doch. Auf jeden Fall lügt sie, deine Schneekönigin in ihrem Palast. Und ich wette, das Dienstmädchen kriegt mächtig Ärger, dass sie uns nicht sofort weggeschickt hat.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Marilene zu, den Blick wie auch die gemeinsame Assoziation ignorierend, und zappelte auf ihrem Sitz herum in der Hoffnung, eine bequemere Position zu finden. Sie stieß schmerzhaft an Grenzen. »Antonia sieht ihr ähnlich«, sagte sie, »die Augen vor allem, und der Mund. Aber es war bestimmt eine gute Entscheidung, das Kind nicht hier aufwachsen zu lassen, wer die auch getroffen haben mag.«
»Das Haus ist der totale Hammer«, warf Gerrit ein, »da würd ich wohl leben mögen. Kannst du nicht irgendwie eine feindliche Übernahme arrangieren?«
»Grundvoraussetzung wäre eine Eheschließung zwischen Antonia und dir, und selbst dann müsstest du den Rest der Familie noch loswerden. Ich bezweifle doch sehr, dass diese Leute dich dulden würden.«
»Vielleicht ändern sie ihre Meinung, wenn ich nicht so dumm aus der Wäsche gucken muss?« Gerrit seufzte. »Familie kann schon die Pest sein. Nicht meine natürlich, die ist einfach bloß anstrengend. Und laut. Wahrscheinlich kommt mir deshalb das Haus vor wie ein Paradies.«
»Du bist zu jung für ländliche Idylle«, befand Marilene.
»An sich meine Meinung, aber sieh dich doch bloß mal um.« Er wies mit ausholender Geste auf die Umgebung, verfehlte dabei Marilenes Kinn nur um Haaresbreite. »Das ist irre, der reinste Balsam für die Seele.«
»Du bist auch zu jung, um dich einbalsamieren zu lassen«, entgegnete Marilene. Insgeheim stimmte sie jedoch zu. Lieblich war das Wort, das ihr in den Sinn kam, nicht so rau wie Ostfriesland. Und vor allem nicht so flach. Die Straße wand sich sachte durch die hügelige Landschaft, einer Achterbahn für Angsthasen gleich, und lägen die Felder um diese Jahreszeit nicht brach, abgesehen vom Mais, wogten Getreide und Raps um die Wette, den vollkommenen Kontrast zum unglaublichen Blau des Himmels zu bilden. Kahl werdende Bäume standen Spalier, ihr Laub wäre im Sommer ein Windspiel flirrender Schatten vor dem Licht am Ende des Tunnels, Alleen voller Verheißung, die immer ans Meer führten, sicherlich.
Sie erreichten Sierksdorf, und für einen Augenblick fürchtete sie, Gerrit habe die Landstraße nur gewählt, um einen Abstecher in den Hansapark zu unternehmen, unwiderstehlicher Magnet für Horden von kreischenden Kindern, die auf ihre Art die
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