Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
wann Frank nach Hause kommen würde, und hatte ihn nicht verärgern wollen, indem sie seine Anordnung aufhob. Sie folgte Kathrin nach oben.
Antonias Tür war verschlossen. Sie rief nach ihr und klopfte. Keine Reaktion.
»Warte hier«, sagte sie, lief die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür und trat hinaus. »Oh, oh«, sagte sie vernehmlich. Das Fenster zu Antonias Zimmer stand einen Spaltbreit offen, und die hinten an der Garage aufragende Leiter verriet den Fluchtweg. Was um Himmels willen war so wichtig, dass sie sich mitten in der Nacht davongestohlen hatte? Und wie sollte sie das Frank erklären? Na gut, er musste das eigentlich nicht erfahren, sofern er nicht ausgerechnet jetzt nach Hause käme, überlegte sie und ging wieder hinein.
Kathrin stand bereits an der Haustür. »Ich muss los«, erklärte sie und drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Geben Sie ihr das, wenn sie zurückkommt?«, bat sie, riss förmlich die Tür auf und stürzte in die Nacht.
Lilian seufzte. Es fiel ihr schwer, loszulassen, zuzulassen, dass diese Kinder ihre eigenen Entscheidungen trafen, richtig oder falsch. Dabei war ihr durchaus klar, dass ihre Fähigkeit zu helfen nie zuvor auf die Probe gestellt worden war, also warum sollten sie jetzt zu ihr kommen, worum es sich auch handeln mochte? Sie trauten ihr nichts zu, erkannte sie, und vermutlich war das ganz gut so.
Sie ging nach oben und schob den Zettel unter Antonias Tür durch, dann fände sie ihn, sobald sie nach Hause käme. Mehr konnte sie nicht tun.
* * *
Marilene schlug die Lider auf und gähnte. Sie hatte nicht geschlafen, glaubte sie wenigstens, nur die Augen ausgeruht. Der Tag war zu lang gewesen. Plötzlich war beschwerlich, was ihr früher kaum etwas ausgemacht hatte. Sie wurde alt, und das praktisch über Nacht, so kam es ihr vor.
»Gleich da.« Gerrit warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ganz schön anstrengend, was?«
Salz in die Wunde, dachte sie, abermals gähnend. »Ja«, gab sie zu, »allein hätte ich das nicht geschafft, also danke für deine Dienste.«
»Immer und nichts lieber«, entgegnete Gerrit, straffte die Schultern und reckte das Kinn in die Höhe.
Kindskopf, dachte Marilene und musste lachen.
»Lachst du etwa über mich?«, empörte er sich.
Im vorbeihuschenden Lichtkegel einer Straßenlaterne erkannte Marilene blankes Entsetzen in seinem Gesicht. »Niemals«, beteuerte sie.
Gerrit bog in die Auffahrt ein und würgte den Motor ab, als wolle er so demonstrieren, wie tief er getroffen war. »Hoppla«, sagte er, »wer ist das?«
Marilene folgte seinem Blick. Jemand hatte sich auf den Stufen zum Privateingang ihres Hauses niedergelassen. Nicht schon wieder, dachte sie entnervt und stieg aus.
»Ich wollte gerade aufgeben«, sagte Antonia, »aber es ist echt dringend. Mama muss morgen zur Polizei, und sie sagt, sie braucht keinen Anwalt, weil sie nichts getan hat, aber die haben bei uns Sachen von Papa gefunden, und wenn sogar der eine Polizist sagt, sie soll einen Anwalt mitbringen, dann …« Sie verstummte, etwas Entrücktes im Blick.
War das auf Gerrit zurückzuführen, der gerade aus dem Wagen stieg und sich lässig in den Türspalt klemmte, oder auf dessen Auto? Marilene vermochte es nicht zu sagen.
»Dann müssen wir sie wohl überreden«, erklärte Gerrit, »steigt ein.«
Antonia folgte augenblicklich der Aufforderung und hechtete dorthin, wo sich bei richtigen Autos die Rückbank befand.
Marilene hingegen zögerte, hatte das nicht Zeit bis morgen? Gerrit beantwortete ihre stumme Frage mit flehendem Dackelblick. »Also gut«, gab sie nach und faltete ihre Beine wieder zusammen, »darauf kommt es jetzt wohl auch nicht mehr an.«
Antonia leitete Gerrit mit, wie Marilene schwören könnte, völlig veränderter Stimme durch die Straßen, und ein paar Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Antonia zog ihre Schlüssel aus der Jacke, doch bevor sie aufschließen konnte, wurde die Tür schon von innen aufgerissen.
»Kind, musst du mir immer so einen Schrecken einjagen? Sei nur froh, dass Frank nichts von deinem Ausflug mitbekommen hat. Wo hast du gesteckt? Kathrin war hier, und –«
Antonia unterbrach sie. »Echt? Wann denn? Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil ich sie überhaupt nicht mehr erreichen konnte.«
»Das ist noch nicht so lange her. Sie hat einen Zettel für dich dagelassen. Ich hab ihn unter deiner Tür durchgeschoben, damit du – oh.« Erst jetzt wurde sie gewahr, dass Antonia nicht allein
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