Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
suizidgefährdet, Beschreibung folgt. Er stürmte ins Freie, drückte auf die Klingel bei Lübben und ließ den Finger drauf, bis endlich Judith öffnete, verschlafen, mit hinreißend zerzaustem Haar. »Ist Enno noch nicht da?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Versuch du, ihn zu erreichen, und schick ihn zu Tewes, ja? Notfall, angekündigter Selbstmord, ich muss los!«, rief er, bereits am Wagen, sprang hinein und fuhr aus der Einfahrt, brauste los mit nicht angemessener Geschwindigkeit, wenigstens was seinen Zustand anbelangte.
Mit quietschenden Reifen bog er kurz darauf um die letzte Ecke. In der Nachbarschaft schien man früh ins Bett gegangen zu sein, nur der Eingang Tewes war hell erleuchtet, die Einfahrt zugeparkt von, blecherner Jugendtraum, einem Mini Cooper. Dieser war aus Wiesbaden, merkwürdiger Zufall. Er stellte den Wagen halb auf dem Bürgersteig ab und hastete zur Tür, die sich anscheinend von selbst öffnete, oder war es der Luftdruck, den er durch sein Tempo erzeugte? Jedenfalls war der Flur verwaist, er klingelte der Form halber, trat ein, schloss die Tür und folgte dem Klang der Stimmen, nicht sprechend, weinend, er hasste Tränen von Frauen, erst recht wenn diese fast noch Kinder waren.
Als er die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, prallte er überrascht zurück: drei händeringende Frauen, zwei völlig tränenüberströmt, die dritte gefährlich nahe dran und obendrein keine Unbekannte, plus Gerrit Baron. Wiesbaden, aha. Er hatte komplett vergessen, dass Hartmanns Anwältin jetzt in Leer praktizierte. Oder es verdrängt. Und was machte Gerrit hier? Alle erstarrten mitten in der Bewegung, und wieder kam ihm Dornröschen in den Sinn, was hatte es nur auf sich damit?, wunderte er sich. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, als könnte er tatsächlich bereits mit Ergebnissen aufwarten. Er winkte ab. »Hey«, sagte er nur.
Antonia schien ihrer Stimme nicht zu trauen und reichte ihm stumm Brief und Foto. Die Freundin musste eine immense Bedeutung für sie haben.
Ein unmissverständlicher Brief. Ein hübsches Kind. Auffällig der Kontrast zu Antonia, wie Schneeweißchen und Rosenrot, dachte er, Nacht der Märchen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie glücklich bis an ihr Ende. »Die Suche läuft, wir werden sie schon finden«, sagte er lahm, am Auffinden nicht zweifelnd, wohl aber am Zustand.
Zu lahm. Antonia wandte sich ab.
»Was ist es, das sie zum Selbstmord drängt?«, fragte er.
»Sie wird offenbar von ihren Brüdern misshandelt, möglicherweise auch missbraucht«, schaltete sich die Anwältin ein, Marilene, äh, Müller, fiel ihm ein, waren sie beim Du gewesen? Er wusste es nicht mehr.
»Und gemobbt wird sie auch«, sagte Antonia gegen den Fußboden gerichtet.
Zu viele Gründe, um lange zu zögern, fürchtete Zinkel. »Wann ist sie hier weg?«
Antonia holte Luft für eine Antwort, doch Müller kam ihr zuvor. »Wir wissen es nicht genau, vielleicht eine halbe Stunde etwa?«
Lilian Tewes nickte. Ihre Nase war gerötet, als dauerte die Heulerei schon länger an, und sie war noch um einiges blasser als ihre Tochter. »Sie war mit dem Rad da«, sagte sie.
Er wandte sich wieder an Antonia. »Was glaubst du, wie würde sie es tun?« Er scheute sich, direkter zu werden. »Habt ihr jemals über so etwas gesprochen?«
»Nein, ich wusste bis vor ein paar Tagen ja nicht mal, was da läuft. Und in der Schule – also, sie ist eine Kämpferin, eigentlich, und es hätte doch einen Ausweg gegeben, Frauenhaus, sogar Kinderheim, Mann, sie kann doch nicht einfach ihr Leben wegschmeißen!«
Und dich alleinlassen, der ultimative Verrat, dachte Zinkel mitfühlend. »Hast du irgendeine Idee, wo sie hingegangen sein könnte?«, insistierte er.
Antonia schüttelte langsam den Kopf, während sie laut nachdachte. »Also Pulsadern oder so kann ich mir nicht vorstellen, ihr wird komisch, wenn sie Blut sieht, ich glaub auch nicht, dass sie es zu Hause tun würde, nein, bestimmt hat sie einen schönen Ort gesucht, warten Sie, sie hat’s total mit Bäumen, so in Gedichten und auf Fotos, oh, und vor ein paar Wochen hat sie da was gelesen über den Friedwald, den sie hier einrichten wollen, sie fand die Vorstellung schön, Nahrung für die Baumwurzeln zu sein, Kreislauf des Lebens, so ungefähr, ich hab nicht richtig aufgepasst, das schien so weit weg …« Ihre Stimme verlor sich.
»Logabirumer Wald«, warf Gerrit ein, der plötzlich ein iPad zur Hand hatte.
Zinkel rief abermals in der Zentrale an,
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