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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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Ihren aufgeplatzten Körper, aus dem alles herausquoll, was ihn am Leben erhalten hatte. Das musste echt eklig aussehen. Wenn sie hätte sicherstellen können, dass nicht irgendjemand anderes sie entdeckte, hätte sie es vielleicht doch versucht, es musste ja niemand mitbekommen, wenn sie kurz vorm Absturz noch einen Rückzieher machte. Aber dann hatte sie vor ein paar Tagen im Radio gehört, dass ein Kind einen Sturz aus dem siebten Stock leicht verletzt überlebt hatte. Gut, sie war kein Kind mehr, doch was, wenn sie tatsächlich überlebte, nur eben schwer verletzt und für immer im Rollstuhl? Lieber nicht.
    Erfrieren soll ein einigermaßen angenehmer Tod sein, hatte sie mal gelesen. Ausreichend Alkohol und dann einfach warten, bis man einschläft. Hörte sich gut an, aber es war, verdammt noch mal, nicht kalt genug dafür, und wer wusste schon, ob dieser Winter nicht überhaupt zu mild werden würde, dann stünde sie schön blöd da.
    Nein, sie konnte nicht länger warten. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie hatte sich viel zu lange vorgemacht, dass sie irgendwann alles hinter sich lassen könnte: fortziehen, studieren, heiraten, Kinder kriegen, ein geradezu lächerlich normales Leben führen. Das war es nicht, was das Schicksal für sie vorgesehen hatte. Ihre Familie würde sie niemals gehen lassen, das wusste sie nun.
    Sie hatte es gewagt aufzubegehren, als Eddi Antonia vertrieben hatte. Sie hatte ihn angeschrien, zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie die Schnauze voll hatte und dass sie so froh wie nur was sein würde, wenn sie endlich das Abi hätte und studieren könnte … Er war dermaßen in Gelächter ausgebrochen, dass er sich fast in die Hosen gemacht hatte, oder er hatte so getan, als ob. Dann hatte er sie verprügelt. Und gedroht, Antonia kaltzumachen, die ihr diese dämlichen Ideen in den dämlichen Kopf pflanzte. Antonia, die so entsetzt gewesen war, als sie mitbekommen hatte, was bei ihr zu Hause abging. Sie war sich so schmutzig vorgekommen. Sie war schmutzig, korrigierte sie sich, sie war der letzte Dreck.
    Sie erreichte ihr Ziel, ließ das Fahrrad achtlos fallen, schnappte sich nur den Beutel aus dem Korb und stapfte entschlossen in den Wald hinein. Mit jedem Schritt wurde es finsterer um sie herum, das spärliche Licht des dunstverhangenen Mondes mehr Ahnung denn wegweisend. Unbeirrt stolperte sie vorwärts, Zweige zerkratzen ihr das Gesicht, sie spürt es kaum, hockt sich hin und kramt die Taschenlampe aus dem Beutel, die sie in weiser Voraussicht eingesteckt hat. Zu der Flasche Korn, die sie aus Eddis Vorrat gestohlen hat. Etwas mehr Mut kann nicht schaden, denkt sie, schraubt die Flasche auf und nimmt ein paar Schluck, schüttelt sich, scheußliches Zeug, wie kann man das saufen, doch beinah versteht sie, warum, die Wärme vielleicht, das wohlige Gefühl einer gewissen Leichtigkeit, das sich einstellt, sobald das Brennen in der Kehle nachlässt, wenigstens das in der Kehle.
    Sie schaltet die Lampe ein und geht weiter. Der hüpfende Lichtstrahl verhindert jetzt, dass sie stolpert oder stürzt, dafür erkennt sie ringsum kaum noch etwas, und das schärft ihr Gehör, es knistert und raschelt und knackt mit jedem ihrer Schritte, ein Feuerwerk, schlügen brechende Zweige Funken. Sie scheucht irgendein Tier auf, ein Hase, ein Reh vielleicht, das rasch durchs Unterholz bricht, fort von hier, eine Eule ruft ganz schaurig, und sie hält kurz inne. Stille. Eine unheimliche, dunkle Stille.
    * * *
    Was war das? Paul Zinkel schreckte aus unruhigem Schlaf, aber äußerst angenehmen Träumen hoch, sich wundernd, warum er auf dem Sofa statt im Bett lag. Mit dem nächsten Klingeln seines Handys setzte die Erinnerung wieder ein – und die Erkenntnis, dass ebendieser Traum verboten war. Zu sein hatte. Er schnaubte inbrünstig, setzte sich auf und schaltete das Licht ein, bevor er das Gespräch eines ihm unbekannten Anrufers annahm. Hoffentlich kein Einsatz, bat er sich aus, er bezweifelte, dass er nüchtern genug dafür war.
    »Antonia, du?« Er warf einen Blick auf seine Uhr, es war gleich zehn.
    Was sie sagte, veranlasste ihn aufzuspringen, hellwach jetzt. »Hast du ein Foto von ihr? Gut, bleib, wo du bist«, befahl er, »ich bin in fünf Minuten bei euch.«
    Während er die Treppe hinuntersprintete, rief er die Bereitschaft an, schickte, während er umständlich mit dem Hörer am Ohr seine Jacke anzog, alle verfügbaren Einsatzkräfte auf die Straße, auf die Suche nach Kathrin Engelbrecht,

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