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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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gab die fehlenden Details durch und forderte einen Suchhund an. »Hast du zufällig ein Kleidungsstück von Kathrin?«, fragte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte, und hoffte, er müsste jetzt nicht noch zu Kathrins Familie, das kostete viel zu viel Zeit.
    Antonia verneinte stumm, stockte in der Bewegung. »Moment, ja«, besann sie sich und stürmte aus dem Zimmer.
    »Ungewaschen!«, rief Zinkel ihr hinterher.
    Binnen Sekunden war sie zurück und hielt ihm einen Pullover entgegen. »Bist du sicher, dass das ihrer ist?«, zweifelte Zinkel. Dunkelgrau war keine Farbe für ein junges Mädchen, außerdem erschien er ihm ein paar Nummern zu groß und ein paar Jahre zu unmodern.
    »Der ist von ihrer Mutter, das Einzige, was sie damals zurückgelassen hat. Kathrin hat ihn praktisch immer getragen …«
    Ein erbärmliches Vermächtnis, fand Zinkel, damals wie heute.
    »Kann ich mit, bitte?«, flehte Antonia.
    Das fehlte grad noch, dachte er, nach sanfteren Worten suchend. »Wenn sie es sich anders überlegt, kommt sie bestimmt zuallererst hierher, ich denke, es wäre besser, wenn du wartest.« Er hörte draußen eine Tür knallen, das würde Enno sein, nahm er an und floh.
    * * *
    Stille legte sich über den Raum, einer erstickenden Decke gleich. Der Sekundenzeiger der alten Wanduhr drehte seine Runden mit erbarmungslosem Ticken, laut, wie das Tropfen eines undichten Wasserhahns.
    Es tat gar nicht so weh, wunderte Lilian sich. All die Jahre hatte sie diesen Makel so verzweifelt zu verbergen gesucht, die verzwicktesten Strategien entwickelt, Ausreden ohne Ende erfunden, dass nur ja niemand dahinterkäme, wie unsäglich dumm sie war. Jetzt verspürte sie beinahe ein Gefühl von Erleichterung, dass das ewige Versteckspielen nun ein Ende hatte. »Seit wann weißt du es?«, flüsterte sie, noch immer nicht willens, »es« zu benennen.
    »Seit ich in der ersten Klasse bin«, entgegnete Antonia patzig. »Wenn Papa mal nicht da war, hast du mir abends ›vorgelesen‹, und als ich selber lesen konnte, hab ich gemerkt, dass der Text in den Büchern ganz anders war.«
    Christian war nicht allzu oft fort gewesen, erinnerte Lilian, aber sie hatte seine Abwesenheit stets gefürchtet, genau aus diesem Grund. Sie war sogar eigens in Buchhandlungen gegangen und hatte sich dort Bilderbücher empfehlen lassen, sodass sie wenigstens das Grundgerüst der Geschichte kannte und die Namen der Figuren. Am schwierigsten war gewesen, sich die Geschichte zu merken und bei Wiederholungen nicht abzuweichen von der vorigen Version. Sie hatte geglaubt, das sei ihr einigermaßen gelungen, denn Antonia hatte selten protestiert, und wenn, dann hatte sie sich herausgeredet mit dem Argument, sie hätte bloß wissen wollen, ob sie auch aufpasste. »Warum hast du nie was gesagt?«, fragte sie.
    »Ich?«, empörte sich Antonia, »das ist ja wohl echt der Hammer! Ich wusste damals schon, dass dir das voll peinlich war, was hätte ich da sagen sollen? Als Papa dann weg war, hab ich dir immer geholfen. Spätestens da hättest du merken müssen, dass ich Bescheid weiß. Jede Rechnung, jeden Elternbrief, die Speisekarte, wenn wir mal essen gegangen sind, sogar die Zeitung hab ich dir manchmal vorgelesen. Hast du echt geglaubt, dass ich auf die blöde Ausrede reinfalle, dass du deine Brille vergessen oder verloren hast? Oder dass du meine Stimme so gern hörst?«
    Im Augenblick hörte sie die nicht gern, dachte Lilian, nicht, wenn sie so sarkastisch klang. Aber es geschah ihr ja recht, musste sie zugeben, sie hätte längst etwas ändern müssen. Es war ja nicht so, dass sie überhaupt nicht lesen konnte, einzelne Buchstaben vermochte sie durchaus zu entziffern, nur das Zusammensetzen zu Wörtern und gar zu ganzen Sätzen fiel ihr so unendlich schwer, dass sie sich der Mühe entzog, wo es nur ging. Wie vorhin. Wenn nur Kathrin nichts zustieß. Das könnte sie sich nie verzeihen. Und auch Antonia würde ihr auf ewig Vorwürfe machen. Was sie ihr nicht verdenken könnte. Oh Gott, nur das nicht! Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihr Traum von einer heilen Familie würde zerplatzen, kaum dass er begonnen hatte.
    * * *
    Weiter, treibt sie sich an, und sobald sie sich bewegt, setzen die Geräusche des Waldes auch wieder ein, weniger Schrecken bergend als zuvor, sie hat sich schon daran gewöhnt, hat die kleine Lichtung im Sinn, den Baum, der seine Äste zur Seite reckt, nicht gen Himmel; komm in meine Arme, wispert er, der Ruf, den sie nie gehört hat, Trost

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