Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
versprechend und Geborgenheit, ihr auserkorener Friedwald, sie hat davon gelesen und wird die Erste sein. Nach rechts jetzt, glaubt sie und spürt, wie Spinnweben sich auf ihr Gesicht legen, Zweige ihr übers Haar streichen, Geste, die ihr nie zuteilwurde, nicht daran denken, beschwört sie sich, und bloß nicht weinen, Tränen brächten sie nur ins Wanken. Sie tritt in ein knietiefes Erdloch, strauchelt und rudert mit den Armen, fängt sich gerade noch und zieht, zieht kräftiger, bis der Boden ihren Fuß schließlich mit leisem Seufzen wieder freigibt.
Langsamer geht sie weiter, sie müsste schon bald da sein, und auf einmal beschleicht sie das Gefühl, nicht allein zu sein, war da nicht ein Rascheln, das nicht sie verursacht hat?, und da noch einmal, einen Tick zeitversetzt, gerade so, als würden ihre Schritte ein Echo heraufbeschwören. Sie bleibt stehen, dreht sich einmal um die eigene Achse und leuchtet mit der Taschenlampe in Schulterhöhe die Umgebung ab. Nichts. Wer würde auch um diese Zeit durch den Wald streifen? Alles Einbildung, beruhigt sie sich und nimmt ihren Weg wieder auf.
Ein Zweig fährt ihr mit scharfer Kralle ins Gesicht, wie um sie in letzter Sekunde aufzuhalten, und sie schreit auf. Plötzlich sind ihre Schritte nahezu lautlos, Gras flüstert unter ihren Füßen, sie hat die Lichtung erreicht und schaltet die Taschenlampe aus, der fahle Mond wirft kalten Schein, und sie sieht ihren Atem in kleinen Wölkchen aufsteigen, magisch, denkt sie, irgendwie surreal. Vorsichtig stakst sie auf Zehenspitzen weiter bis zu ihrem Baum, der zum Gruße nickt und sie willkommen heißt, genau so, wie sie es in Erinnerung hat.
Sie sinkt auf die Knie, stumme Abbitte leistend, nicht beim Himmel, an den zu glauben sie längst nicht mehr vermag, eher beim Baum, ein Gebet müsste her, findet sie, doch ihr will nichts Angemessenes einfallen, und so trinkt sie von dem Korn, eine Wärme wie flüssiges Feuer, dann holt sie das Seil hervor, windet es in ihren Händen, streicht über die Schlinge, den Henkersknoten, dem Internet sei Dank, alles ist bereit, sie verspürt keine Angst mehr, und doch, und doch ist da ein Zögern in ihr, was, wenn sie zurückginge, nicht nach Hause, im Leben nicht, aber zu Antonia, vielleicht gibt es irgendwo Hilfe für sie, vielleicht kann sie entkommen, vielleicht ist nicht die ganze Welt so elendig schlecht? Und nun zittern ihre Hände doch, und sie sieht nichts mehr vor lauter Tränen, weint, laut jetzt, ihr ganzer Kummer bricht schluchzend aus ihr hervor, sie hat nicht geahnt, wie wohl das tut, es kommt ihr vor, als würde aller Schmutz von ihr gewaschen, ich bin klein, mein Herz ist rein, entsinnt sie sich doch noch, und dieser Gedanke setzt sich fest, schlägt fruchtbare Wurzeln, sie will überhaupt nicht sterben, erkennt sie endlich und hebt verwundert den Kopf, während sie schon das Seil zurück in den Beutel stopft, was für eine dumme, dumme Idee, sie wird zurückgehen, sie wird kämpfen, sie wird: nie wieder aufgeben!
Erleichterung flutet ihre Sinne, dass ihr schwindelt, und sie rappelt sich ungeschickt auf. Plötzlich ist ihr, als hörte sie ein leises Lachen, als verspürte sie den leichtesten Lufthauch im Nacken, und sie erstarrt mitten in der Bewegung, Geisterstunde, denkt sie, die reine Einbildung, sie registriert verwundert, wie ihre Nackenhaare sich sträuben und ihr Magen sich verkrampft, ihr Gehirn einen stummen Fluchtbefehl brüllt, und noch bevor der in den Füßen ankommt, vernimmt sie abermals dieses Lachen, deutlich jetzt, kein Irrtum möglich.
»Komm, gib mir den Beutel, lass mich dir helfen«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf, doch es war zu spät, es war schon immer viel zu spät.
* * *
Marilene scharrte gedanklich mit den Füßen, auf den geeigneten Moment wartend, sich zu verabschieden. Diese Auseinandersetzung ging sie nichts an. Ohnehin gab es Wichtigeres im Augenblick. Schließlich ging es um das Leben eines jungen Menschen, und sollte Kathrin nicht rechtzeitig gefunden werden, vermochte sie sich die Konsequenzen nur allzu gut vorzustellen: ein traumatisiertes Kind und ein zerrüttetes Mutter-Tochter-Verhältnis. Sie wusste ohnehin nicht recht, wo sie hier stand oder zu stehen hatte; mit einer Katastrophe im Rücken, die sich vielleicht hätte vermeiden lassen, würde es noch schwieriger, sich zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen hindurchzulavieren. Dabei schien es ihr ebenso unerlässlich, herauszufinden, wer was wusste und seit wann, wie
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