Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Anlass nicht angemessen. Das fanden alle. Ich bin nicht altmodisch oder so, aber es war einfach peinlich, auch wenn die Männer sich natürlich die Augen aus dem Kopf gestiert haben. Na ja, jedenfalls ist sie gestürzt, sie hat sich ziemlich wehgetan, glaube ich, denn zwei Kollegen haben sie zum Arzt bringen müssen. Und das war das Letzte, was wir je von ihr gesehen haben.«
»Ach ja?«
»Sie hat eine Krankmeldung geschickt, vier Wochen, wenn ich mich nicht irre, und dann hat sie, noch bevor die Zeit um war, gekündigt.«
»Keine Begründung?«, fragte Marilene.
»Nein. Wir haben auch nicht nachgefragt, es war ja nicht so, dass sie eine sonderlich verantwortungsvolle Position ausgefüllt hat. Sie war eine Lagerarbeiterin, nicht mehr.«
»Echt? Ich dachte, irgendjemand hätte mir erzählt, sie habe Abitur?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis, und wie gesagt, alle Unterlagen sind nach zehn Jahren vernichtet worden.«
»Wissen Sie, ob sie eine Beziehung hatte? Womöglich jemand in der Firma? Oder können Sie mir jemanden nennen, der das wüsste?«
»Weder noch. Sie hat sich normalerweise große Mühe gegeben, nicht aufzufallen, hat sich nicht gut gekleidet, nicht geschminkt, und immer die Augen am Boden. Natürlich ist sie trotzdem oder gerade deshalb aufgefallen, aber ich glaube, sie hat das gar nicht gemerkt. Sie hat sich jedenfalls, soweit ich weiß, mit niemandem eingelassen, nicht mal mit dem Chef. Das hab ich zufällig mal mitbekommen, wie er sie zum Essen einladen wollte, und sie hat bloß mit dem Kopf geschüttelt und ist weggelaufen, hat ihn nicht mal angesehen dabei, so schüchtern war sie.«
»Was war anders auf der Betriebsfeier?«, fragte Marilene.
»Alkohol vermutlich. An dem Abend jedenfalls hat sie sich Kelling und Breitbach ziemlich an den Hals geworfen, aber ob da mehr war, kann ich nun wirklich nicht sagen.«
»Kelling und Breitbach?«, wiederholte Marilene.
»Möglich wär’s, wer weiß? Jedenfalls haben die beiden sie zum Arzt gebracht. Jasper Kelling und, ich glaube, Hannes Breitbach. Ich kann sie nicht weiterverbinden, die haben die Firma inzwischen nämlich auch verlassen.«
Zu dumm, Marilene notierte die Namen und hoffte, Gerrit würde ihr die Recherche abnehmen. Und nicht etwa herausfinden, dass die nach Bayern emigriert waren oder noch weiter weg. Die Gespräche mit ihnen würde sie lieber von Angesicht zu Angesicht führen statt telefonisch. »Und ihr damaliger Chef?«, hakte sie nach, »wissen Sie zufällig, wo der zu finden wäre?«
»Reinicke? Nö, der hat was von einer einmaligen Chance gefaselt, aber genauer ist er nicht geworden. Zack, weg war er, gar nicht so viel später als Lilian übrigens. Franz Reinicke hieß er, jetzt weiß ich es wieder.«
Drei Namen, immerhin, das müsste sie schon weiterbringen, hoffte Marilene und bedankte sich für die Hilfe.
* * *
Groß, schwer, schmierig, der Typ in Achselhemd und Jogginghose war zum Fürchten, fand Zinkel und vergewisserte sich unauffällig, dass seine Waffe im Holster steckte, bevor er seinen Ausweis zückte und sie vorstellte, was lediglich ein leichtes Stirnrunzeln zeitigte.
»Und Sie sind?« Lübben schien ähnlich zu empfinden, denn auch er hatte die Hand an der Waffe.
»Eddi Engelbrecht, warum?«
Eunuchenstimme, dachte Zinkel gehässig. Die Tonlage ließ ihn noch gefährlicher wirken, unberechenbar, war vermutlich Teil des Problems dieses Mannes. Kaum die zwanzig überschritten, schätzte er, und bereits jenseits von Gut. »Sonst noch jemand zu Hause?«, fragte er.
»Keine Ahnung.« Engelbrecht stemmte die Hände auf beiden Seiten in den Türrahmen und machte keinerlei Anstalten, nachzusehen oder sie hereinzulassen.
»Sie werden beschuldigt, Ihre Schwester zu misshandeln.« Lübbens Stimme hallte durch den Flur.
Das wirkte. Engelbrecht klappte die Augenlider halb zu und die Arme runter und drehte sich zur Seite, um sie vorbeizulassen.
»Nach Ihnen«, bestimmte Zinkel, dem Mann würde er niemals den Rücken zudrehen.
Engelbrecht gab nach, wandte sich um und schlurfte betont gelangweilt ins Innere der Wohnung. Mit der Faust hieb er auf die Türklinke der ersten Tür zur Rechten und stieß sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand prallte und vermutlich den Putz beschädigte. »Kathrin«, zischte er, »sag den Herren, dass das voll der Blödsinn ist. Hä? Wo steckt die denn? Ich hab doch –« Er unterbrach sich und latschte weiter, als ginge ihn das alles schon nichts mehr an. »Üble Nachrede, das isses,
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