Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
gehabt.«
Er brauchte nicht weiterzusprechen, um jedem am Tisch klarzumachen, dass er diese Chance nicht nur gehabt, sondern auch genutzt hatte. Warum konnte sie sich nicht an ihn erinnern? Sie brachte das Bild dieses gar nicht mal unattraktiven Mannes mit niemandem in Verbindung, sosehr sie sich auch den Kopf zermarterte. Okay, sie hatte in jenem Sommer nicht wenig getrunken, aber bestimmt nicht so viel, dass alles, was ihn betraf, ausgelöscht war. Denn der Rest war zwar lange verschüttet gewesen, aber durchaus noch vorhanden, wenn auch etwas bruchstückhaft. Na egal, sagte sie sich, sie hatte sowieso nicht die Absicht, diese angebliche Beziehung wiederaufleben zu lassen. Außerdem gab es Wichtigeres zu tun, als über alte Zeiten zu brüten. Punkt.
»Und du«, Olaf wandte sich an Gerrit, als spürte er ihren neuerlichen Rückzug, »bist du liiert?«
»Mal mehr, mal weniger«, wich Gerrit aus. »Im Moment eher weniger, aber mit steigender Tendenz.«
Antonia, hatte sie’s doch geahnt. Sie konnte ihn gut verstehen, Antonia war ausgesprochen hübsch, das Ebenbild ihrer feenhaften Mutter, nur nicht so zart und zerbrechlich wirkend, dabei intelligent und herzlich. Aber eine Fernbeziehung in dem jugendlichen Alter? Vorhersehbar auch, wo Gerrit unterzukommen gedachte, wenn er sie besuchte. Ha! Sie würde ihn zu einer Männer- WG mit Lothar verdonnern, davon konnten alle Seiten nur profitieren.
»Ach ja, die Jugend«, sagte Olaf, »halt nur gut fest an deinem Glück und gib es nie leichtfertig auf. Es wartet nicht an jeder Straßenecke auf einen.«
Finanzen, von wegen, der Satz war eines Predigers würdig, spottete Marilene innerlich.
Gerrit hingegen ging darauf ein. »Schlechte Erfahrungen?«, fragte er.
»Das auch, ja, aber vor allem traurige. Meine Frau ist sehr jung verstorben. Ein Autounfall. Fahrerflucht. Von einem Moment auf den nächsten war alles vorbei. Alles anders.«
»Tut mir leid«, murmelte Marilene verlegen. Sie hatte angenommen, er spielte auf sie beide an.
»Schon gut, das ist lange her. Ihr Tod hat nur …« Er zögerte, offenbar nach Worten suchend. »Ich mochte mich nicht mehr ernsthaft binden danach, ich hatte viel zu viel Angst, dass mir so etwas noch einmal passieren könnte. Das hätte ich nicht verkraftet.«
»Man erträgt mehr, als man glaubt aushalten zu können«, sagte ihr Vater.
Marilene begann zu verstehen, was die beiden aneinander fanden. Ihr Vater hatte es ebenso vorgezogen, sich nicht wieder zu binden, nachdem ihre Mutter damals abgehauen war, und führte seither ein Leben ohne größere Höhen und Tiefen. Soweit sie wusste.
»Das wird wohl so sein, und ich arbeite ja auch daran, wieder gesellschaftsfähig zu werden«, wechselte Olaf die Stimmung. »Aber genug von mir. Was ist mit dir?«, wandte er sich an Marilene. »Verheiratet? Kinder?«
»Nö«, sagte sie, »hat sich nicht ergeben.« Letztlich lebte auch sie lieber allein, als dass sie das Risiko einging, verlassen zu werden auf die eine oder andere Art. Nie wieder, hoffte sie, das eine Mal hatte sie weit über ihre Grenzen getrieben, und so ganz war sie aus jenem Niemandsland noch nicht zurückgekehrt, trotz ihres Ortswechsels.
»Oh, aber zu Kindern sagt sie nie Nein«, warf Gerrit ein. »Ich bin der lebende Beweis für die These. Man könnte mich gewissermaßen als Erstgeborenen bezeichnen. Nach mir kommen noch drei – von denen ich weiß.«
»Du bist kein Kind, du bist ein Kindskopf«, befand Marilene. »Und meine angedichtete Kinderschar wird heute nicht mehr Thema sein. Ich muss morgen früh raus«, drängte sie zum Aufbruch und erntete erstaunlich wenig Widerspruch.
Olaf bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen, was ihr nicht sonderlich behagte, dennoch verzichtete sie auf eine Debatte, die vermutlich nur zu einer Vereinbarung für ein nächstes Mal führen würde. Obgleich der Abend angenehmer als befürchtet verlaufen war, legte sie keinen gesteigerten Wert auf eine Fortsetzung, einerlei, wie sehr ihr Vater das bedauern mochte, sofern sie seine Blicke richtig deutete. Mit wem sie sich näher abgab, entschied immer noch sie selbst, und so fiel ihre Verabschiedung Olafs auch ordentlich vage aus, ein lapidares Tschüss, nicht mehr.
9
Paul Zinkel schnupperte. Der Geruch war noch der gleiche wie vor annähernd dreißig Jahren. Muffig irgendwie, leicht säuerlich? Es roch nach Schule, präziser ließ sich das nicht definieren, heute wie damals, ein spezifischer Geruch, der Disziplin und Lärm und Pausenbrote
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