Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
man muss eben wissen, wo und welcher Weg der schnellste ist.«
»Hm.« Er gab sich nachdenklich. »Und das funktioniert, obwohl du keine juristische Vorbildung hast?«
»Es geht ja nicht um irgendwelche Gesetzestexte, das macht sie wirklich besser selbst.« Gerrit warf einen fragenden Blick zu Marilene und fuhr erst fort, als sie mit den Achseln zuckte. »Zum Beispiel haben wir gerade nach einer Person gesucht, die vor ein paar Jahren spurlos verschwunden ist.«
»Das klingt ja richtig aufregend. Und – habt ihr sie gefunden?«
»Nee, war längst tot. Kein Wunder, dass ich nichts finden konnte. Lebende hinterlassen immer irgendwo Spuren, Tote leider nicht. Jedenfalls keine, die ich deuten könnte.«
»Heißt das, es geht um Mord?« Er täuschte Entsetzen vor.
»Geht es, und mehr ist dazu nicht zu sagen«, gab Marilene den Spielverderber.
»Ist schon klar, Schweigepflicht und so, ich wollte bestimmt nicht ins Detail gehen«, versuchte er, sie zu beschwichtigen.
»Verschwiegenheitspflicht«, korrigierte sie überheblich, »der Gerrit im Übrigen genauso unterliegt, das musste er unterschreiben.«
Er erkannte die Lüge an Gerrits Braue, die eine Idee nach oben zuckte, bevor er eilfertig zustimmend nickte. »Ehrlich, mich interessiert nur diese Computersache«, wiegelte er ab. »Sagen wir, ich wäre auf der Suche nach Marilene gewesen, hättest du sie für mich finden können, auch wenn ich nur den Mädchennamen kenne?«
»Ganz sicher.« Gerrit warf sich in die Brust. »Gut, wenn sie jetzt Lieschen Müller geheißen hätte, wäre das vermutlich sehr zeitaufwendig geworden, aber Marilene hat Seltenheitswert.«
»In jeder Hinsicht, da stimme ich dir uneingeschränkt zu.« Er himmelte sie dezent an und registrierte aus dem Augenwinkel, dass Joe recht wohlwollend dreinblickte. Im Gegensatz zu Marilene allerdings, die verdrehte lediglich die Augen, also verkniff er sich jede Bemerkung zu ihrem Familienstand. »Und wie funktioniert so eine Suche?«, fragte er.
»Betriebsgeheimnis«, sagte Gerrit mit Grabesstimme.
»Verstehe«, murmelte er, und in der Tat, er verstand sehr gut. Gerrit könnte ihm gefährlich werden.
* * *
Lilian stand unten im Flur und lauschte. Antonia weinte noch immer, und es schien, als würde sie nicht so bald damit aufhören. Sie musste mittlerweile völlig erschöpft sein. Den ganzen Tag über war ihr Schluchzen zu hören gewesen, selbst durch die geschlossene Zimmertür drang das Geräusch, ein steter Vorwurf, der gelegentlich abebbte, nur um kurz darauf wieder voller Inbrunst aufgenommen zu werden, wie ein tragischer, atonaler Gesang. Den sie nicht mehr hören konnte.
Frank war gerade nach Hause gekommen und versuchte jetzt, Antonia zu trösten. Sie verstand nicht, was er sagte, doch anscheinend war er so erfolglos wie sie selbst. Aber ihn duldete Antonia wenigstens in ihrer Nähe. Verkehrte Welt. Bis gestern war das Verhältnis der beiden so angespannt gewesen, dass sie gefürchtet hatte, ständig vermitteln zu müssen, und nun auf einmal kam es ihr vor, als hätten sie sich gegen sie verbündet. Frank hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt, bevor er nach oben geeilt war. Wieso durfte er zu Antonia und sie nicht? Sie hatte sie rausgeworfen, handgreiflich, und sogar die Tür abgeschlossen. Ein gebrochenes Tabu. Ihre Tochter entglitt ihr, und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun konnte.
Sie war nicht schuld an Kathrins Tod. Selbstmord konnte man nicht verhindern, nicht, wenn er wirklich beabsichtigt war. Mord genauso wenig. Der Mörder hätte nach einer anderen Gelegenheit gesucht und sie sicher auch gefunden. Ein Aufschub nur, mehr wäre nicht drin gewesen, hätte sie den Zettel lesen können. Warum fühlte sie sich trotzdem schuldig?
Blöde Frage, befand sie. Sie konnte gar nicht anders, hatte sich immer schon einreden lassen, dass sie selbst an ihrem Unglück schuld war. Wenn es denn überhaupt Unglück gewesen war und nicht bloß Einbildung oder gar böser Wille. Drei Schritte zum Abgrund: Unsinn, sie lügt, das Kind hat zu viel Phantasie. – Was tust du uns an? Willst du alles kaputt machen? Böse bist du und hinterhältig. – Und schließlich, wenn alles Leugnen nicht mehr half, selbst schuld, die am schwersten wiegende Anklage. Selbst schuld.
Sie ließ den Kopf hängen. Dieser Falle würde sie nicht entkommen. Irgendwann holte einen alles wieder ein, egal, wie gut verdrängt, wie tief vergraben. Geborgenheit war eine trügerische Illusion, nicht mehr als eine
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