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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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– schützend?
    »Hast du denn keine Fotos aus der Zeit?«, fragte Gerrit, »vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
    »Doch, schon.« Sie hob den Zeigefinger. »Lass mich überlegen, wo sind die Alben gelandet? Arne hat mich nämlich gezwungen, endlich die letzten Kisten auszupacken, und«, sie stand auf und ging zum Regal, »ich wollte es schnell hinter mich bringen und hab nicht – doch.« Sie bückte sich, öffnete die Tür im Sockel und wies triumphierend auf ihre Fotoalben, die freilich nicht chronologisch geordnet waren. Das rote war ziemlich neu, obendrein ziemlich leer, überlegte sie, das braune das älteste, und dazwischen? Sie zerrte blau, grau und kariert heraus und schleppte sie zum Schreibtisch.
    Das karierte erwies sich als das gesuchte Album. Auf den ersten Seiten Schnappschüsse von ihrer letzten Studienfahrt, London, das Wetter very british , die Laune der Mitschüler unbeeindruckt albern, ein Gruppenfoto der Stockschirmbrigade, Gerd mit Melone auf dem Kopf, die heilige Ruth vor Westminster Abbey, dann Bilder vom Weihnachtsfest, das letzte, das sie zu dritt gefeiert hatten; komisch, fand Marilene, ihre Mutter wirkte so froh, das hatte sie anders in Erinnerung, sie musste doch kreuzunglücklich gewesen sein, wenn es sie fortgetrieben hatte, hier baute sie einen Schneemann, strahlte dabei übers ganze Gesicht, oh, sie wusste wohl, warum sie nie mehr in den alten Alben gestöbert hatte: Es tat zu weh.
    Marilene blätterte langsam weiter, fürchtete all die Gespenster, die sie ansprängen, ihr einen Schlag in den Magen versetzten, da, die Abiturfeier, Sektlaune und ein Foto ihrer Eltern, nichts zu sehen von einem Zerwürfnis, das Lächeln für die Linse, für sie, Lug und Trug; ein Tanz, Stefan, glaubte sie, der Junge mit dem Haar, um das schier jedes Mädchen ihn beneidet hatte, hüftlang und weich gewellt, sie fragte sich, was von der Pracht noch übrig war, oder ob heute eine Glatze unterm Blitzlicht glänzte. Sie zögerte, jetzt mussten sie kommen, die Bilder aus Dänemark, sorgsam strich sie die Schutzseite glatt, ein Knistern wie von zerplatzenden Sektbläschen, Gerrits Atem in ihrem Nacken, warm und beruhigend, und ja, da waren sie.
    Das Gewusel beim Aufbau der Zelte am Rand der Dünen, das Hissen der Stammesflagge, die Bunker am Strand, Lagerfeuerromantik und natürlich Ralf, sogar ein Foto von Ralf und ihr gab es, das hatte sie völlig vergessen, und oh, er sah so gut aus, sie hätte wissen müssen, damals, dass er ein Jäger und Sammler war, nichts fürs Herz, viel zu leichte Beute war sie gewesen, ohne jeden Gedanken an Selbstachtung, oder wenigstens Selbstschutz.
    Nächste Seite. Olaf. Einmal das Duplikat der Aufnahme, die er für sie hinterlassen hatte. Einmal Olaf allein, ein Grinsen im Gesicht, das zugleich anhimmelnd und anzüglich ist, er sitzt beschattet am Tisch eines Biergartens, oder war es die Eisdiele?, das Kinn auf die Fäuste gestützt, ein Zwinkern in den Augen, das unmöglich von Lichtreflexen rühren kann, sondern ihr gilt, der Fotografin. Und schließlich noch ein Foto, Porträt, Selbstauslöser offensichtlich, sie liegen im Sand, ihr Kopf in seiner Armbeuge, der Schatten der Kamera fällt auf ihr Gesicht, ihre Schultern sind sandverkrustet und, sie kniff die Augen zusammen, bar jeden Fetzen Stoffs.
    Das war’s. Marilene klappte das Album zu und lehnte sich zurück. Schon seltsam, dass sie Olaf so vollkommen ausgeblendet hatte.
    »Pfadfinder-Romantik«, spottete Gerrit und setzte sich auf den Schreibtisch. »Auf jeden Fall hat er schwer was aus sich gemacht. Kaum zu glauben, dass das derselbe Typ sein soll.«
    »Daran zweifle ich überhaupt nicht«, sagte Marilene.
    »Woran dann? An deinem Sinn für Ästhetik?« Gerrit hob die Brauen in schwindelnde Höhen. »Du hast eben schon damals hinter die Fassade geguckt, das ist an sich doch was Gutes, er ist ja auch ganz nett, nur, also, in diesem Fall«, stammelte er, »echt, so direkt kann ich es nicht nachvollziehen, muss ich auch nicht, klar, aber offensichtlich warst du ziemlich verliebt, also kann er kein Vollidiot gewesen sein, er hat halt bloß so ausgesehen.«
    Marilene blähte die Backen in Ermangelung einer Antwort.
    »Genau so.« Gerrit lachte.
    Das brach den Bann. »Okay«, sagte sie, »vorbei ist vorbei, und alte Zeiten lässt man sowieso besser ruhen. Ich war nur verwirrt, dass ich mich an ihn so gar nicht mehr erinnern konnte, das hat mich schon verunsichert, und in meinem Alter denkt man da

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