Marina.
davon.
Verwirrt näherte ich mich dem Säulengang und trat gerade noch rechtzeitig auf die Straße hinaus, um sie zu erkennen. Die Dame in Schwarz, die wir auf dem Friedhof von Sarriá gesehen hatten, stieg in eine anachronistische Pferdedroschke ein. Sie wandte sich um und schaute mich einen Augenblick lang an. Ihr Gesicht war unter einem schwarzen Schleier verborgen, einem undurchdringlichen Spinnennetz. Eine Sekunde später schloss sich das Türchen der Droschke, und der Kutscher in seinem grauen Mantel, der ihn von Kopf bis Fuß einhüllte, peitschte die Pferde an. Die Droschke sauste auf dem Paseo de Colón Richtung Ramblas davon und verlor sich schließlich im Verkehr.
Ich war durcheinander und mir nicht bewusst, dass ich den Brief, den mir der Dienstmann gegeben hatte, noch in der Hand hielt. Als ich ihn bemerkte, öffnete ich ihn. Im Umschlag steckte eine alte Karte, worauf eine Adresse zu lesen war:
Michail Kolwenik
Calle Princesa, 33, 4º 2ª
Ich drehte die Karte um. Auf der Rückseite war das Symbol aufgedruckt, das das namenlose Friedhofsgrab und das verlassene Gewächshaus schmückte. Ein schwarzer Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln.
10
A uf dem Weg zur Calle Princesa spürte ich meinen Magen knurren und kaufte in einer Bäckerei gegenüber der Basilika Santa María del Mar ein Stück Kuchen. Der Geruch nach süßem Brot schwebte wie ein Echo der Glockenklänge in der Luft. Die Calle Princesa führte als enges Schattental durch die Altstadt. Ich kam an betagten Palästen und Häusern vorbei, die älter wirkten als die Stadt selbst. Die verwaschene Nummer 33 an einer der Fassaden war kaum zu entziffern. Ich trat in einen Hausflur, der an den Kreuzgang einer alten Kapelle gemahnte. An einer gesprungenen Emailwand bleichten eine Reihe rostiger Briefkästen vor sich hin. Als ich – vergeblich – den Namen Michail Kolwenik suchte, hörte ich es hinter mir schwer atmen.
Erschrocken wandte ich mich um und erblickte das lederartige Gesicht einer alten Frau in ihrer Pförtnerinnenloge. Sie sah aus wie eine Wachsfigur in Witwentracht. Ein Hauch von Licht umspielte ihr Gesicht. Ihre Augen waren weiß wie Marmor. Ohne Pupillen. Sie war blind.
»Wen suchen Sie?« Ihre Stimme klang gebrochen.
»Michail Kolwenik, Señora.«
Die leeren Augen blinzelten zweimal. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich habe diese Adresse bekommen«, sagte ich. »Michail Kolwenik. Vierter Stock, zweite Tür.«
Wieder schüttelte die Alte den Kopf und kehrte dann in ihren reglosen Zustand zurück. In diesem Augenblick sah ich, wie sich auf dem Tisch in ihrem Kabäuschen etwas bewegte. Eine schwarze Spinne kletterte auf die runzlige Hand der Pförtnerin. Ihre weißen Augen starrten ins Leere. Leise schlich ich zu den Treppen.
Seit mindestens dreißig Jahren hatte hier niemand mehr eine Glühbirne ausgewechselt. Die Treppenstufen waren glitschig und ausgetreten, die Absätze Schächte von Dunkelheit und Stille. Von einer Dachluke bei der obersten Wohnung ging eine zittrige Helligkeit aus. Dort flatterte eine Taube umher, die den Weg nach draußen nicht mehr fand. Die zweite Wohnung im vierten Stock lag hinter einer massiven Kassettentür mit einer Klinke, die nach Eisenbahnwaggon aussah. Ich klingelte zweimal und hörte im Innern das Echo verhallen. Einige Minuten verstrichen. Ich klingelte erneut. Zwei weitere Minuten. Ich dachte, ich hätte ein Grab betreten. Eines von Hunderten geisterhafter Häuser, die Barcelonas Altstadt verzaubern.
Auf einmal wurde der Schieber am Guckloch betätigt. Lichtstrahlen durchbrachen die Dunkelheit. Die Stimme, die ich vernahm, war aus Sand – eine Stimme, die seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen hatte.
»Wer ist da?«
»Señor Kolwenik? Michail Kolwenik?«, fragte ich. »Dürfte ich mich einen Moment mit Ihnen unterhalten, bitte?«
Schlagartig wurde wieder der Schieber betätigt. Stille. Eben wollte ich noch einmal klingeln, als die Tür aufging.
Eine Silhouette zeichnete sich auf der Schwelle ab. In der Wohnung hörte man einen Wasserhahn.
»Was willst du, mein Junge?«
»Señor Kolwenik?«
»Ich bin nicht Kolwenik«, unterbrach mich die Stimme. »Mein Name ist Sentís, Benjamín Sentís.«
»Verzeihen Sie, Señor Sentís, aber ich habe diese Adresse bekommen und …«
Ich reichte ihm die Karte, die mir der Dienstmann auf dem Bahnhof gegeben hatte. Eine steife Hand ergriff sie, und der Mann, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, studierte sie eine Weile
Weitere Kostenlose Bücher