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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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die Säure verursachten Schaden wiedergutzumachen, so dass ich mit einer Stimme singen würde, die nicht mehr die meine war … Hirngespinste. Luis erzählte mir, die Bauarbeiten am Teatro Real seien eingestellt worden, die Mittel seien schon vor Monaten aufgebraucht gewesen, das Haus sei eine riesige nutzlose Höhle. Die Gelassenheit, mit der mir Michail begegnete, war reine Fassade. Wochen- und monatelang verließ er das Haus nicht. Ganze Tage blieb er in seinem Studio eingeschlossen, ohne richtig zu essen oder zu schlafen. Joan Shelley erzählte mir später, er habe um seine Gesundheit und seinen Verstand gebangt. Er kannte ihn besser als sonst jemand und hatte ihm von Anfang an in seinen Experimenten beigestanden. Er war es, der mir im Klartext von Michails Besessenheit von degenerativen Krankheiten erzählte, von seinen verzweifelten Versuchen, die Mechanismen zu entdecken, mit denen die Natur die Körper deformierte und verkümmern ließ. Immer hatte er darin eine Kraft, eine Ordnung und einen Willen jenseits aller Vernunft gesehen. In seinen Augen war die Natur eine Bestie, die ihren eigenen Nachwuchs auffraß, ohne sich um das Los der Wesen zu kümmern, die sie beherbergte. Er sammelte Fotos seltener Fälle von Verkümmerungen und medizinischen Monstrositäten. Bei diesen Menschenwesen hoffte er seine Antwort zu bekommen: wie er ihre Dämonen an der Nase herumführen könnte.
    Zu dieser Zeit wurden die ersten Symptome seiner Krankheit sichtbar. Michail wusste, dass er sie in sich trug, und wartete geduldig wie ein Uhrwerk. Er hatte es schon immer gewusst, seit er in Prag seinen Bruder hatte sterben sehen. Sein Körper begann sich selbst zu zerstören. Seine Knochen zerfielen. Er steckte die Hände in Handschuhe, verbarg seinen Körper und sein Gesicht. Er floh meine Gesellschaft. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, doch es war Tatsache: Seine Erscheinung veränderte sich. An einem Wintertag weckten mich im Morgengrauen seine Schreie. Lauthals entließ er die Bediensteten. Niemand wehrte sich, alle hatten in den vergangenen Monaten Angst vor ihm bekommen. Nur Luis weigerte sich, uns zu verlassen. Weinend vor Wut, zerschmetterte Michail sämtliche Spiegel und verbarrikadierte sich dann in seinem Studio.
    Eines Abends bat ich Luis, Dr. Shelley zu holen. Zwei Wochen lang war Michail nicht mehr herausgekommen und hatte auch nicht mehr auf mein Klopfen geantwortet. Ich hörte ihn hinter der Tür schluchzen und mit sich selbst sprechen. Ich war ratlos, er war dabei, mir zu entgleiten. Zu dritt schlugen wir die Tür ein und holten ihn heraus. Entsetzt stellten wir fest, dass sich Michail am eigenen Körper operiert und seine linke Hand wiederherzustellen versucht hatte, die immer mehr zur grotesken, unbrauchbaren Klaue geworden war. Shelley verabreichte ihm ein Beruhigungsmittel, und wir wachten bis zum Morgengrauen über seinen Schlaf. Verzweifelt angesichts der Agonie seines alten Freundes, machte sich Shelley in dieser langen Nacht Luft und brach sein Versprechen, niemals die Geschichte zu erzählen, die ihm Michail Jahre zuvor anvertraut hatte. Als ich seine Worte hörte, begriff ich, dass weder die Polizei noch Inspektor Florián je geahnt hatten, dass sie ein Gespenst verfolgten. Michail war nie ein Verbrecher oder ein Betrüger gewesen. Er war bloß ein Mensch, der dachte, sein Los sei es, den Tod zu übertölpeln, bevor der Tod ihn übertölpelte.«
     
     
    »Michail Kolwenik erblickte das Licht der Welt am letzten Tag des 19. Jahrhunderts in den Abwasserkanälen von Prag.
    Seine Mutter war knapp siebzehn und arbeitete als Dienstmädchen in einem Palast des Hochadels. Wegen ihrer Schönheit und Naivität war sie der Liebling ihres Herrn geworden. Als man ihre Schwangerschaft entdeckte, wurde sie wie ein räudiger Hund auf die schmutzige, schneebedeckte Straße hinausgejagt, fürs restliche Leben gezeichnet. In jenen Jahren überzog der Winter die Straßen mit einer tödlichen Decke. Es hieß, die Mittellosen verbärgen sich in den alten Abwasserkanälen. Die örtliche Legende sprach von einer regelrechten Stadt der Dunkelheit unter den Straßen Prags, wo Tausende Parias ihr Leben verbrachten, ohne je wieder das Sonnenlicht zu sehen – Bettler, Kranke, Waisen und Flüchtlinge. Sie huldigten dem Kult einer rätselhaften Persönlichkeit namens Prinz der Bettler. Es hieß, er sei alterslos, habe das Gesicht eines Engels und sein Blick sei aus Feuer. Er lebe in eine Decke von schwarzen Schmetterlingen

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