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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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voranzukommen, und sich die Wände entlangtasten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Kaum waren wir einige Meter weit gelangt, als wir Schritte über uns vernahmen. Sie hatten uns unter dem Parkett aufgespürt und verfolgten uns. Der Widerhall der Schüsse wurde immer lauter. Ich fragte mich, wie viel Zeit und wie viele Schüsse Claret noch haben mochte, bevor er von dieser Meute zerfetzt würde.
    Auf einmal wurde über unseren Köpfen eine Platte morschen Holzes hochgerissen. Schneidend drang das Licht herein und blendete uns, und etwas fiel uns vor die Füße, ein totes Gewicht. Claret. Seine Augen waren leer, ohne Leben. In seiner Hand rauchte noch der Revolverlauf. Es gab keine Wunden oder sonstigen Spuren von Gewalt an seinem Körper, aber irgendetwas stimmte nicht. Marina schaute über mich hinweg und stöhnte auf. Man hatte ihm mit brutaler Gewalt den Hals umgedreht, so dass sein Gesicht nach hinten schaute. Ein Schatten hüllte uns ein, und ein schwarzer Schmetterling setzte sich auf Kolweniks treuen Freund. In meiner Verwirrung bemerkte ich Michails Anwesenheit nicht, bis er durch das morsche Holz griff und mit seiner Klaue Marinas Hals umfasste. Er zog sie wie eine Feder zu sich herauf, bevor ich sie festhalten konnte. Ich rief seinen Namen. Und da sprach er zu mir. Nie werde ich seine Stimme vergessen.
    »Wenn du deine Freundin in einem Stück wiedersehen willst, dann bring mir das Fläschchen.«
    Mehrere Sekunden lang konnte ich keinen Gedanken fassen. Dann holte mich die Angst in die Wirklichkeit zurück. Ich beugte mich über Clarets Körper und versuchte ihm die Waffe zu entwinden. In den letzten Zuckungen hatten sich seine Handmuskeln verkrampft. Der Zeigefinger steckte im Abzug. Finger um Finger lösend, erreichte ich schließlich mein Ziel. Ich öffnete die Trommel und stellte fest, dass keine Munition mehr drin war. Auf der Suche nach weiteren Kugeln tastete ich Clarets Taschen ab. In seinem Jackett fand ich die zweite Ladung, sechs Silberkugeln mit durchbohrter Spitze. Der arme Mann hatte keine Zeit mehr gehabt, die Waffe nachzuladen. Der Schatten des Freundes, dem er sein ganzes Dasein hingegeben hatte, hatte ihm vorher mit einem kurzen, brutalen Schlag das Lebenslicht ausgeblasen. Nachdem er sich so viele Jahre vor dieser Begegnung gefürchtet hatte, war Claret vielleicht außerstande gewesen, auf Michail Kolwenik – oder was von ihm noch geblieben war – zu schießen.
    Zitternd kletterte ich die Mauern des Tunnels hoch ins Parkett und machte mich auf die Suche nach Marina.
     
     
    Dr. Shelleys Kugeln hatten die Bühne mit Leichen übersät. Weitere hingen in den großen Lüstern und über den Logenbrüstungen. Luis Claret hatte die ganze Meute in Kolweniks Begleitung umgelegt. Als ich die Kadaver sah, ungeheuerliche Ausgeburten, musste ich unweigerlich denken, das sei noch das beste Los gewesen, das sie hatten anstreben können. Wie sie so ohne Leben dalagen, wurde die Künstlichkeit ihrer Transplantate und Bestandteile noch deutlicher. Eine der Leichen lag mit ausgerenkter Kinnlade im Mittelgang des Parketts auf dem Rücken. Ich schritt über sie hinweg. Die Leere ihrer dunklen Augen ließ mich zutiefst erschauern. Nichts war darin, nichts.
    Ich näherte mich der Bühne und erklomm die Bretter. Das Licht in Ewa Irinowas Garderobe brannte noch, doch niemand war da. Es roch nach Aas. Auf den alten Fotos an den Wänden erkannte man blutige Fingerabdrücke. Kolwenik. Ich hörte ein Knacken in meinem Rücken und schnellte mit gezücktem Revolver herum.
    »Ewa?«
    Ich trat wieder auf die Bühne hinaus und erblickte im Rang einen bernsteinfarbenen Lichtkreis. Als ich mich näherte, erkannte ich Ewa Irinowas Gestalt. Sie hielt einen Kandelaber in der Hand und betrachtete die Ruinen des Gran Teatro Real. Die Ruinen ihres Lebens. Sie wandte sich um und hob langsam die Flammen an die abgeschabten Samtzungen, die von den Logen hingen. Sogleich ging der ausgetrocknete Stoff in Flammen auf. So legte sie die Feuerspur, die sich rasch über die Logenwände, die vergoldeten Emailarbeiten und Parkettplätze ausbreitete.
    »Nein!«, rief ich.
    Sie schenkte mir keine Beachtung und verschwand durch die Tür, die hinter den Logen zur Galerie führte. In Sekundenschnelle breiteten sich die Flammen zu wütendem Toben aus, das alles auf seinem Weg verschlang. Der Glanz zeigte das Gran Teatro in einem neuen Licht. Ich verspürte eine Hitzewelle, und der Gestank nach brennendem Holz und Anstrich bereitete mir

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