Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
Übelkeit.
    Ich verfolgte, wie die Flammen aufstiegen. In der Höhe erkannte ich die Bühnenmaschinerie, ein komplexes System von Seilen, Vorhängen, Rollen, aufgezogenen Kulissen und Laufbrücken. Von dort beobachteten mich zwei glühende Augen – Kolwenik. Mit einer einzigen Hand hielt er Marina fest wie ein Spielzeug. Er bewegte sich mit katzenhafter Gewandtheit zwischen den Gerüsten. Ich wandte mich um und stellte fest, dass sich die Flammen im ganzen ersten Rang ausgebreitet hatten und zu den Logen des zweiten hinaufzüngelten. Das Loch in der Kuppel schürte das Feuer noch, so dass sich ein riesiger Schornstein bildete.
    Ich eilte zu einer Holztreppe. Sie führte im Zickzack hinauf und erzitterte unter meinen Schritten. Auf der Höhe des dritten Rangs blieb ich stehen und schaute empor. Ich hatte Kolwenik verloren. In diesem Augenblick bohrten sich mir Klauen in den Rücken. Ich entwand mich der tödlichen Umarmung und sah mich einer von Kolweniks Kreaturen gegenüber. Clarets Schüsse hatten ihr einen Arm abgetrennt, aber sie lebte noch. Sie hatte lange Haare, und ihr Gesicht war einmal das einer Frau gewesen. Ich zielte mit dem Revolver auf sie, aber sie blieb nicht stehen. Unversehens überfiel mich die Gewissheit, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Der Abglanz der Flammen offenbarte mir, was von ihrem Blick noch übrig war. Ich spürte, wie mein Hals austrocknete.
    »María?«, stammelte ich.
    Kolweniks Tochter beziehungsweise das Wesen, das in ihrer Schale hauste, zögerte einen Augenblick.
    »María?«, rief ich noch einmal.
    Nichts war mehr da von der engelhaften Ausstrahlung, die ich von ihr in Erinnerung hatte. Ihre Schönheit war zum elenden, schaudererregenden Ungeziefer verstümmelt worden. Ihre Haut war noch frisch. Kolwenik hatte rasch gearbeitet. Ich senkte den Revolver und versuchte, dieser armen Frau eine Hand entgegenzustrecken. Vielleicht gab es noch Hoffnung für sie.
    »María? Erkennen Sie mich? Ich bin Óscar. Óscar Drai. Erinnern Sie sich an mich?«
    María Shelley schaute mich durchdringend an. Einen kurzen Moment spiegelte ihr Blick einen Hauch von Leben. Ich sah sie Tränen vergießen und die verbleibende Hand heben. Ich betrachtete die groteske Metallklaue, die ihrem Arm entwuchs, und hörte sie stöhnen. Ich reichte ihr die Hand. Zitternd wich sie einen Schritt zurück.
    Über einer der Stangen, die den Hauptvorhang trugen, explodierte ein Feuerstoß. Der Stoff wurde zu einer Flammendecke. Die Kordeln, die ihn zusammengehalten hatten, zerstoben wie brennende Peitschen, und die Laufbrücke, auf der wir standen, befand sich in ihrem Zentrum. Zwischen uns zeichnete sich eine Feuerlinie ab. Noch einmal streckte ich Kolweniks Tochter die Hand hin.
    »Nehmen Sie meine Hand – bitte!«
    Sie zog sich zurück, floh vor mir. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Plattform unter unseren Füßen quietschte.
    »María, bitte …«
    Das Wesen betrachtete die Flammen, als gäbe es in ihnen etwas zu erkennen. Sie warf mir einen letzten, rätselhaften Blick zu und packte das brennende Seil, das sich über die Plattform spannte. Das Feuer griff auf ihren Arm, auf den Oberkörper, die Haare, Kleider und ihr Gesicht über. Sie loderte wie eine Wachsfigur, bis die Bretter zu ihren Füßen nachgaben und sie in den Abgrund stürzte.
    Ich lief zu einem der Ausgänge des dritten Rangs. Ich musste Ewa Irinowa finden und Marina retten.
    »Ewa!«, rief ich, als ich sie endlich ausfindig gemacht hatte.
    Sie ignorierte meinen Ruf und ging weiter. Auf der mittleren Marmortreppe holte ich sie ein und packte sie fest am Arm, so dass sie stehen bleiben musste. Sie rangelte, um sich loszureißen.
    »Er hat Marina. Wenn ich ihm nicht das Serum gebe, wird er sie umbringen.«
    »Deine Freundin ist bereits tot. Mach, dass du von hier wegkommst, solange du noch kannst.«
    »Nein!«
    Ewa Irinowa schaute sich um. Rauchspiralen glitten über die Treppe. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
    »Ohne sie kann ich nicht gehen.«
    »Du begreifst es nicht«, antwortete sie. »Wenn ich dir das Serum gebe, wird er euch beide umbringen, und niemand wird ihn davon abhalten können.«
    »Er will niemanden umbringen, er will bloß leben.«
    »Du verstehst es noch immer nicht, Óscar. Ich kann nichts tun. Alles liegt in Gottes Hand.«
    Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon.
    »Niemand kann die Arbeit Gottes verrichten. Nicht einmal Sie«, sagte ich, um sie an ihre eigenen Worte zu erinnern.
    Sie blieb

Weitere Kostenlose Bücher