Marionetten
ein Stichwort ihres Mandanten zu warten. »Das entspricht der Tradition ihres Volkes und ihres Stammes.«
Abdullah ging über ihren Einwurf hinweg, als wäre er nie gefallen, und sann weiter über die Schwere von Issas Vergehen nach. »Legen Sie es wieder an, Issa«, sagte er schließlich. »Ziehen Sie den Ärmel darüber, damit ich es nicht sehen muß.« Und nachdem Annabel übersetzt und Issa gehorcht hatte, fuhr er mit seiner Predigt fort.
»Es gibt Menschen, Issa, die leben nur im Diesseits, in der Dunya, und trachten nach Geld und materiellem Status für die kurze Dauer ihres Erdenlebens. Und es gibt Menschen, denen liegt gar nichts an der Dunya und dafür um so mehr an der Akhira, dem ewigen Leben, das wir im Jenseits führen, jeder nach seinen Verdiensten und seinen Versäumnissen in den Augen Gottes. Unser Leben in der Dunya ist die Zeit des Säens. In der Akhira wird sich erweisen, was für eine Ernte uns beschieden ist. Sagen Sie mir jetzt, Issa, wovon sagen Sie sich los und um wessentwillen?«
Annabel hatte kaum zu Ende übersetzt, als Issa aufsprang und rief: »Mein Herr! Bitte. Ich sage mich von den Sünden meines Vaters los, für Gott!«
* * *
Die Fäuste auf den Tisch unter der Monitorreihe gestemmt, hatte sich Bachmann, der neben Maximilian kauerte, keine Tonfärbung, keine Geste der vier Akteure entgehen lassen.
Nichts an Issas Verhalten kam für ihn überraschend; er meinte ihn zu kennen, seit er erstmals deutschen Boden betreten hatte. Auch der erste prüfende Blick auf MEILENSTEIN hatte ihm genau das gezeigt, was er zu sehen erwartete und in der Tat x-mal gesehen hatte, in all den Fernsehmitschnitten, Zeitungsphotos und Leitartikeln mit ihren Lobeshymnen auf den Esprit, die Besonnenheit und die Toleranz eines der führenden Muslime Deutschlands, eines Mannes noch in den besten Jahren mit blitzschneller Auffassungsgabe, charismatisch, intelligent und im ständigen Spagat zwischen dem von ihm kultivierten Bild der Weitabgewandtheit und seinem ausgeprägten Hang zur Eigenwerbung.
Doch Bachmanns Hauptaugenmerk galt Annabel. Ihr geschicktes Lavieren bei Abdullahs Kreuzverhör hatte ihm schier den Atem verschlagen, und nicht nur ihm ging es so: Maximilian saß stocksteif da, die Finger über der Tastatur, während Niki zwischen den vors Gesicht gehaltenen Händen hindurch auf den Bildschirm starrte.
»Der Himmel bewahre uns vor Anwälten«, flüsterte Bachmann schließlich, und die beiden anderen lachten befreit auf. »Hab ich euch nicht gesagt, sie ist ein Naturtalent?«
Und im stillen: Jetzt müßtest du dein armes Kind sehen, Erna.
* * *
Die Stimmung in seinem Büro, wiewohl unvermindert ernst, wirkte auf Brue weniger angespannt als einschläfernd. Nachdem Dr. Abdullah Issas religiöse Wissenslücken aufgedeckt hatte, hielt er ihm nun einen Vortrag über die breite Palette muslimischer Wohltätigkeitsorganisationen, die er unterstützte, und das System ihrer Finanzierung. Brue derweil lehnte sich in seinem ledernen Bankdirektorssessel zurück und versuchte sich den Anschein angelegentlichen Lauschens zu geben, dabei bewunderte er in Wahrheit nur Annabels Übersetzungskünste.
Die Zakat, so der unermüdliche Dr. Abdullah, sei nach muslimischem Recht nicht als Steuer definiert, sondern als Dienst an Gott.
»O ja, mein Herr, das ist richtig«, murmelte Issa, nachdem Annabel es ihm gedolmetscht hatte. Brue setzte eine frommzustimmende Miene auf.
»Der Zakat ist das gebende Herz des Islam«, fuhr Dr. Abdullah methodisch fort und hielt inne, damit Annabel übersetzen konnte. »Gott und der Prophet – der Friede sei auf ihm – gebieten, daß jedermann einen Teil seines Reichtums weggeben soll.«
»Aber ich will alles weggeben!« rief Issa und sprang auf, noch bevor Annabel zum Ende gekommen war. »Jede Kopeke, mein Herr! Sie werden es sehen! Ich gebe hundert Prozent. An all meine Brüder und Schwestern in Tschetschenien.«
»Aber auch an den Rest der Umma, denn wir gehören ja alle zur selben großen Familie«, erinnerte ihn Dr. Abdullah geduldig.
»Mein Herr! Ich bitte Sie! Meine Familie sind die Tschetschenen!« rief Issa mitten hinein in Annabels Übersetzung. »Tschetschenien ist meine Mutter!«
»Und da wir hier im Westen sind, Issa«, fuhr Dr. Abdullah unerschütterlich fort, als hätte er Issas Ausbruch nicht gehört, »gestatten Sie mir, Sie darüber aufzuklären, daß viele westliche Muslime ihren Zakat heutzutage nicht mehr engen Freunden oder Blutsverwandten geben,
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