Marionetten
sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen. Sollte er sich einem anderen unterlegen fühlen, nur weil dieser andere gefoltert worden war? Sollte er sich aus demselben Grund eines Urteils enthalten? Hier ging es ums Prinzip.
»Ja, also dann, seien Sie gegrüßt«, begann er lebhaft in seinem akkuraten Russisch, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem von Issa aufwies. »Wie man mir sagt, haben wir nicht viel Zeit. Fassen wir uns kurz, bleiben wir bei der Sache. Ich darf Sie Issa nennen?«
»Gewiß, mein Herr« – wieder dieses Lächeln, gefolgt von einem raschen Blick hinüber zu Melik an seinem Fenster und einem scheuen vorbei an Annabel, die sich in die hinterste Ecke umgesetzt hatte, einen Aktenordner auf den züchtig weggedrehten Knien.
»Und Sie nennen mich gar nichts«, sagte Brue. »So war es abgemacht, wenn ich das richtig verstehe? Ja?«
»Gewiß«, wiederholte Issa beflissen. »Ich bin mit sämtlichen Ihrer Wünsche einverstanden. Sie erlauben mir, eine Erklärung abzugeben? Bitte?«
»Selbstverständlich.«
»Sie ist nicht lang!«
»Bitte sehr.«
»Ich möchte nur Medizin studieren, sonst nichts. Ich möchte ein geordnetes Leben führen und der Menschheit dienen, zum Ruhme Allahs.«
»Prächtig, prächtig, darauf kommen wir sicher noch zurück«, sagte Brue, und um gleich die Geschäftsmäßigkeit ihres Treffens zu unterstreichen, nahm er aus einer Innentasche seines Jacketts einen Notizblock mit Lederrücken und aus der anderen einen goldenen Füllhalter. »Aber lassen Sie uns doch vorab ein paar grundlegende Fakten festhalten, wenn es Ihnen recht ist. Angefangen bei Ihrem vollständigen Namen.«
Aber Issas Gedanken gingen ganz offenbar andere Wege.
»Mein Herr!«
»Ja, Issa.«
»Sie haben das Werk des großen französischen Denkers Jean-Paul Sartre gelesen?«
»Da müßte ich lügen, fürchte ich.«
»Wie Sartre habe auch ich Heimweh nach der Zukunft. Und wenn ich eine Zukunft habe, werde ich keine Vergangenheit mehr haben. Ich werde nur Gott haben und meine Zukunft.«
Brue fühlte Annabels Blick auf sich ruhen. Sehen konnte er sie nicht, aber ihren Blick spürte er trotzdem – oder bildete es sich zumindest ein.
»Wie dem auch sei, heute muß es uns um die Gegenwart gehen«, erwiderte er geschmeidig. »Wären Sie also so gut, mir Ihren vollständigen Namen zu nennen?«
»Salim«, antwortete Issa nach einer Sekunde der Unschlüssigkeit.
»Und weiter?«
»Mahmoud.«
»Issa Salim Mahmoud?«
»Jawohl.«
»Und sind das Ihre gesetzlichen Namen, oder haben Sie sie sich selbst ausgesucht?«
»Gott hat sie ausgesucht.«
»Gewiß.« Brue schmunzelte, teils um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern, teils um seine Überlegenheit zu betonen. »Dann möchte ich Sie Folgendes fragen. Wir sprechen russisch. Sie sind Russe. Bevor Gott Ihre heutigen Namen ausgesucht hat, hatten Sie da einen russischen Namen? Und einen dazugehörigen russischen Vatersnamen? Welche Namen würde man beispielsweise auf Ihrer Geburtsurkunde finden?«
Nachdem er sich mit gesenkten Lidern bei Annabel Rat geholt hatte, schob Issa eine knochendürre Hand in seinen Mantel und tiefer bis in sein Hemd und brachte einen speckigen Ziegenlederbeutel zum Vorschein. Diesem entnahm er zwei verblaßte Zeitungsausschnitte, die er Brue über den Tisch reichte.
»Karpow«, sinnierte Brue laut, als er sie gelesen hatte. »Und bei Karpow handelt es sich um wen? Ist Karpow Ihr Familienname? Warum geben Sie mir diese Artikel?«
»Das ist irrelevant. Bitte. Ich kann nicht«, murmelte Issa und schüttelte den naßgeschwitzten Kopf.
»Aber für mich ist es leider doch relevant«, sagte Brue so freundlich wie gerade noch möglich, ohne das Heft aus der Hand zu geben. »Ich fürchte, es ist sogar sehr relevant. Wollen Sie mir sagen, daß Oberst Grigorij Borisowitsch Karpow ein Angehöriger von Ihnen ist beziehungsweise war? Verstehe ich Sie da recht?« Er wandte sich Annabel zu, an die er im stillen die ganze Zeit über das Wort gerichtet hatte. »Es ist wirklich schwierig, Frau Richter«, beschwerte er sich auf deutsch, steif zunächst und dann instinktiv in einem einlenkenderen Tonfall. »Wenn Ihr Mandant einen Anspruch geltend machen will, muß er mir sagen, wie er heißt, oder er muß auf seinen Anspruch verzichten. Er kann nicht hü und gleichzeitig hott rufen.«
Es kam zu einem Augenblick der Verwirrung, als Leyla in der Küche jammernd die Stimme erhob und Melik sie auf türkisch beschwichtigte.
»Issa«, sagte Annabel,
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