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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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mit einer Hand, nicht mit beiden –, und er hat ihn mir gegeben, als wär’s bloß ein …« Er kam nicht sofort auf einen passenden Vergleich. »Als wär’s bloß irgendein Buch in einem Laden! Wer tut so was? Keiner! Ganz egal, ob er Tschetschene, Türke, Araber oder sonstwas ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, er ist mein Bruder, ja? Ich liebe den Mann. Er ist ein echter Held. Aber auf dem Fußboden. Mit einer Hand. Ohne Gebet. Ohne alles.«
    Leyla hatte genug gehört.
    »Was fällt dir ein, deinen Bruder schlechtzumachen, Melik?« fauchte sie ihn an, auf deutsch, damit ihr Publikum auch etwas davon hatte. »Einer wie du, der die ganze Nacht in seinem Zimmer unanständige deutsche Rap-Musik spielt! Was meinst du, was dein Vater dazu gesagt hätte?«
    Aus der Diele kamen Geräusche. Brue hörte, wie jemand vorsichtig eine wacklige Leiter herunterkletterte.
    »Und er hat das Photo von meiner Schwester mit zu sich raufgenommen«, sagte Melik. »Ohne zu fragen. Wenn ich die Generation von meinem Vater wäre, müßte ich ihn dafür wahrscheinlich umbringen oder so. Er ist mein Bruder, aber er ist ganz schön durchgeknallt.«
    Annabel Richters Chorknabenstimme übernahm das Kommando.
    »Sie haben Ihren Backtag versäumt, Leyla«, sagte sie mit einem vielsagenden Blick in Richtung der Milchglastür, die die Küche vom Wohnzimmer trennte.
    »Daran sind die Männer schuld.«
    »Dann schlage ich vor, Sie backen jetzt noch«, sagte Annabel ruhig. »Damit die Nachbarn merken, daß Sie nichts zu verbergen haben.« Sie wandte sich Melik zu, der neben dem Fenster Posten bezogen hatte. »Gut, daß Sie aufpassen. Bitte halten Sie weiter Ausschau. Wenn es klingelt, lassen Sie niemanden rein, ganz egal, wer es ist. Sagen Sie, es geht nicht, Sie haben ein Gespräch mit einem Sponsor. Okay?«
    »Okay.«
    »Und wenn es wieder die Polizei ist, sollen sie entweder ein andermal wiederkommen, oder sie sprechen mit mir.«
    »Und ein echter Tschetschene ist er auch nicht. Er tut bloß so«, sagte Melik.
    * * *
    Die Tür ging auf, und über die Schwelle trat zögernd eine Gestalt, die genauso groß war wie Melik, aber nur halb so breit. Brue erhob sich, das Bankierslächeln gehißt, die Bankiershand ausgestreckt. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Annabel ebenfalls aufgestanden war, sich aber nicht von der Stelle rührte.
    »Issa, das ist der Herr, den Sie sprechen wollten«, sagte Annabel in tadellosem Russisch. »Ich habe mich vergewissert, daß er der ist, als der er sich ausgibt. Auf Ihren Wunsch hin hat er sich heute abend herbemüht, und er hat niemandem von diesem Treffen erzählt. Er spricht Russisch und muß Ihnen ein paar wichtige Fragen stellen. Wir sind ihm alle sehr dankbar, und ich bin überzeugt, Sie werden in Ihrem eigenen Interesse, aber auch um Meliks und Leylas willen, nach besten Kräften mit ihm kooperieren. Ich werde zuhören und Ihre Belange vertreten, wenn es mir erforderlich erscheint.«
    Issa stand mit hängenden Armen in der Mitte von Leylas goldenem Teppich und wartete auf einen Befehl. Als keiner kam, hob er den Kopf, legte die rechte Hand aufs Herz und faßte Brue bewundernd ins Auge.
    »Ergebensten Dank, mein Herr«, murmelte er, ohne den Anflug eines Lächelns ganz unterdrücken zu können. »Es ist mir eine große Ehre. Wie man mir versichert, sind Sie ein guter Mensch. Man sieht es an Ihren noblen Zügen und an Ihrer erlesenen Kleidung. Und eine schöne Limousine besitzen Sie sicherlich auch?«
    »Na ja, einen Mercedes.«
    Aus Gründen der Höflichkeit oder des Selbstschutzes hatte Issa seinen schwarzen Mantel angezogen und sich die Tasche aus Kamelleder umgehängt. Er war frisch rasiert. Nach zwei Wochen unter Leylas mütterlicher Obhut hatten seine eingefallenen Wangen sich gerundet und verliehen ihm für Brues Empfinden etwas engelhaft Unwirkliches: Dieser zarte Seraph will gefoltert worden sein? Einen Moment lang mißtraute Brue ihm zutiefst. Das strahlende Lächeln, die blumiggestelzte Sprache, die aufgesetzte Gefaßtheit, all das gehörte zum klassischen Repertoire des Betrügers. Doch sobald sie sich an Leylas Tisch gegenübersaßen, bemerkte Brue den Schweißfilm auf Issas Stirn, und als er den Blick tiefer wandern ließ, sah er seine Hände auf der Tischplatte, Handgelenk an Handgelenk wie in Erwartung von Handschellen. Er sah das dünne Armband mit dem goldenen Koran daran, wie ein Talisman, der ihn beschützen sollte. Und er wußte, daß er ein versehrtes Kind vor sich hatte.
    Doch er ließ

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