Marionetten
Kuchen probiert hatte, aber niemand schien ihn zu hören.
Die Frauen – die eine schön, die andere pummelig, beide todernst – saßen nebeneinander auf dem Velourssofa. Melik lehnte mit dem Rücken an der Tür. Issa kommt gleich runter, sagte er mit einem Blick zur Decke und lauschte. Issa macht sich fertig. Issa ist nervös. Vielleicht betet er noch. Er kommt schon.
»Gerade, daß die Polizisten abgewartet haben, bis Frau Richter aus der Tür war«, machte Leyla, an Brue gewandt, unvermittelt einem Ärger Luft, der offenbar schon eine Weile in ihr gärte. »Ich hab sie runtergebracht, ich hab das Geschirr in die Küche geräumt, und fünf Minuten später geht schon die Klingel. Ich hab mir ihre Ausweise zeigen lassen und mir ihre Namen aufgeschrieben, so wie mein Mann früher auch immer. Zivilbeamte. Ich hab alles richtig gemacht, oder, Melik?«
Sie drückte Brue einen Schreibblock in die Hand. Ein Polizeimeister und ein Polizeihauptmeister samt dazugehörigen Namen. Weil er nicht wußte, was er damit anfangen sollte, stand er verlegen auf und zeigte den Block Annabel, die ihn der neben ihr sitzenden Leyla zurückgab.
»Sie haben gewartet, bis meine Mutter allein zu Hause war«, sagte Melik von der Tür her. »Ich war mit meinem Schwimmteam auf einem Wettkampf. Zweihundertmeterstaffel.«
Brue nickte, ernst und verständnisvoll. Er hatte schon lange an keiner Besprechung mehr teilgenommen, bei der er nicht den Vorsitz führte.
»Ein Alter und ein Junger«, nahm Leyla ihre Klage wieder auf. »Issa, Gott sei Dank dafür, war auf dem Speicher. Als es geklingelt hat, hat er die Leiter raufgezogen und die Falltür zugemacht. Seitdem hat er sich unten nicht mehr blicken lassen. Er sagt, sie kommen wieder. Sie tun so, als ob sie weggehen, und dann kommen sie wieder, und man wird abgeschoben.«
»Sie machen nur ihre Arbeit«, sagte Annabel. »Sie besuchen Haushalte in der ganzen türkischen Gemeinde. Das müssen sie als Kontaktbereichsbeamte.«
»Erst sollte es wegen Meliks islamischem Sportverein sein, dann wegen der Hochzeit von meiner Tochter nächsten Monat in der Türkei. Ob wir uns sicher sind, daß wir hinterher wieder nach Deutschland einreisen dürfen. ›Natürlich sind wir uns sicher!‹ hab ich gesagt. ›Nicht, wenn Sie Ihre Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bekommen haben‹, haben sie gesagt. ›Das war vor zwanzig Jahren!‹ hab ich ihnen gesagt.«
»Leyla, Sie sorgen sich völlig unnötig«, sagte Annabel streng. »Es ist eine Maßnahme zur Vertrauensbildung, um die vielen anständigen Muslime von den wenigen schwarzen Schafen zu trennen. Mehr steckt nicht dahinter. Beruhigen Sie sich.«
Klang die Chorknabenstimme einen Hauch zu bestimmt? Brue hatte ganz den Eindruck.
»Soll ich Ihnen was Komisches erzählen?« fragte Melik Brue mit gar nicht amüsierter Miene. »Sie wollen ihm helfen, darum ist es wohl besser, wenn Sie es wissen. Er ist anders als alle anderen Muslime, die ich kenne. Kann schon sein, er ist ein Gläubiger, aber er denkt nicht wie ein Muslim, er benimmt sich nicht wie ein Muslim.«
Seine Mutter fuhr ihn auf türkisch an, ohne Erfolg.
»Als er schwach war – ja? –, als er in meinem Bett lag, damit er wieder gesund wird, ja?, hab ich ihm Verse aus dem Koran vorgelesen. Aus dem Koran meines Vaters. Auf türkisch. Dann wollte er selber drin lesen. Auf türkisch. Dafür, daß er die heiligen Worte erkennt, reicht sein Türkisch, hat er gesagt. Also geh ich zu dem Tisch, wo er liegt – aufgeschlagen, okay? –, ich sage Bismillah, wie ich es von meinem Vater gelernt habe – ich beug mich darüber, als ob ich ihn küssen will, aber ich tu’s nicht wirklich, das hat mir mein Vater auch beigebracht, ich berühr ihn bloß mit der Stirn, und dann leg ich ihn in seine Hände. ›Bitte sehr, Issa‹, sag ich zu ihm. ›Der Koran meines Vaters. Normalerweise soll man nicht im Bett darin lesen, aber vielleicht macht es nichts, weil du krank bist.‹ Und wo liegt das Buch, wie ich eine Stunde später wieder ins Zimmer komme? Auf dem Fußboden. Der Koran meines Vaters liegt auf dem Boden. So was würde einem anständigen Muslim nie einfallen, und meinem Vater gleich dreimal nicht. Also denk ich: na schön. Ich reg mich nicht auf. Er ist krank, und das Buch ist ihm aus der Hand gefallen, weil er einen Schwächeanfall hatte. Ich verzeihe ihm. Es gehört sich, großmütig zu sein. Aber wie ich ihn zusammengeschissen hab, hat er sich runtergebeugt und ihn einfach aufgehoben,
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