Marionetten
Privatschule für die Kinder ausländischer Bediensteter, die in Moskau leben. Deshalb habe ich sie besucht.«
»Ihr Vater war ein ausländischer Bediensteter, der in Moskau gelebt hat? Was für eine Art von Bediensteter, Annabel?«
Sie versuchte es herunterzuspielen. »Ich habe damals zufällig bei der Familie eines ausländischen Bediensteten gewohnt. Deshalb durfte ich auf die Privatschule gehen, und da habe ich Russisch gelernt.«
Und das ist mehr, als ich dir eigentlich erzählen wollte, denn nicht einmal du wirst aus mir herauskitzeln, was bei Fluchthafen kein Mensch weiß: daß nämlich mein Vater Diplomat in Moskau war.
Ein Piepton schreckte sie auf, aber es war nicht ihr Handy. Hatten sie eine Alarmanlage ausgelöst, irgendeine clevere Vorrichtung, die sich die Handwerker ausgedacht hatten? Nervös blickte sie sich danach um. Aber es war der Pager, den Issa von Melik bekommen hatte und der ihn zum ersten Gebet des Tages rief.
Trotzdem blieb er am Fenster stehen. Warum? Hielt er nach seinen KGB-Verfolgern Ausschau? Nein. Er bestimmte im Licht der fahlen Morgensonne die Richtung nach Mekka, bevor er sich mit seinem bleistiftdünnen Körper auf den nackten Dielenboden kniete.
»Sie verlassen bitte den Raum, Annabel.«
* * *
Während sie in der Küche wartete, schaffte sie ein bißchen Platz und packte die Mülltüte aus. Sie setzte sich auf einen Hocker, stützte sich, die geballte Faust an der Wange, mit dem Ellbogen auf den Tapeziertisch und starrte geistesabwesend ins Leere. Vor ihrem inneren Auge erschien, wie so oft, wenn sie müde war, die Sammlung kleinformatiger flämischer Meister, die die Wohnzimmerwände der elterlichen Villa in einem Vorort von Freiburg zierten.
»Die hat dein Großvater in München auf einer Auktion ersteigert«, hatte ihre Mutter geantwortet, als Annabel, eine Einzelkämpferin von vierzehn Jahren, ihren Feldzug zur Erforschung der Herkunft der Gemälde begonnen hatte. »So, wie dein Vater auch seine Ikonen am liebsten sammelt.«
»Für wieviel?«
»Nach heutigen Maßstäben wären sie vermutlich eine ganze Menge wert. Aber damals … ein Butterbrot.«
»Wann hat er sie ersteigert?« bohrte sie nach. »Von wem? Wem haben die Bilder gehört, bevor Großvater sie für ein Butterbrot auf einer Auktion in München ersteigert hat?«
»Warum fragst du nicht deinen Vater, Schatz?« schlug ihre Mutter vor, mit einer Stimme, die der mißtrauischen Annabel allzu honigsüß in den Ohren klang. »Es ist schließlich sein Vater, nicht meiner.«
Doch als Annabel ihn fragte, stand statt ihres Vaters plötzlich ein Fremder vor ihr. »Diese Zeiten sind ein für allemal vorbei«, beschied er sie, in einem amtlichen Ton, den er ihr gegenüber noch nie angeschlagen hatte. »Dein Großvater hatte einen Riecher für Kunstwerke, er hat den gängigen Preis bezahlt. Außerdem können es genausogut Fälschungen sein. Und jetzt ist das Thema erledigt, ja?«
Und es war erledigt gewesen. Bei keinem der vielen Familienforen seither – sei es aus Liebe, aus Angst oder aus Gründen der verhaßten Familiendisziplin, gegen die sie sich so leidenschaftlich auflehnte – hatte sie mehr daran zu rühren gewagt. Dabei sahen sich ihre Eltern als Radikale! Sie waren Revoluzzer, oder gewesene Revoluzzer: Achtundsechziger, die während der Studentenproteste auf den Barrikaden gestanden und Transparente mit der Aufschrift »Amis raus« geschwenkt hatten. »Ihr jungen Leute von heute wißt doch gar nicht, was echter Protest ist!« hatten sie lachend zu ihr gesagt, wenn sie den Bogen mal wieder überspannt hatte.
Annabel zog ein Notizbuch aus ihrem Rucksack, und im Schein des Oberlichts machte sie sich eine Liste der Dinge, die als nächstes zu erledigen waren. Für ihre Listen war sie in der Familie genauso berühmt wie für ihre Kompromißlosigkeit. Eben noch eine Chaotin, die ihr ganzes unorganisiertes Leben im Rucksack herumschleppte wie eine Schnecke ihr Haus, im nächsten Moment die übergenaue Deutsche, die über die Listen, die sie sich machen mußte, Listen führte.
Seife
Handtücher
Essen
Süßigkeiten
Frische Milch
Klopapier
Medizinische Fachzeitschriften auf russisch: wo herkriegen?
Kassettenrecorder mitnehmen. Nur Klassik, keinen Schund.
Und ich werde mir keinen verdammten iPod zulegen. Nein. Ich werde nicht dem Konsumterror erliegen.
Auf die Gefahr hin, daß Issa noch betete, stahl sie sich vorsichtig wieder in den Hauptraum. Er war leer. Sie lief zum Fenster. Es war zu, keine
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