Marionetten
der Genesung bringen würde.
»Dann höre ich von Ihnen, ja?« hatte Brue gesagt, als ob auch er, wie Issa, von ihr gerettet werden wollte.
Wovor? Emotionaler Leere? War Brue ebenfalls ein Ertrinkender, dem sie nur die Hand hinzustrecken brauchte?
* * *
Sie waren vor ihrem Haus angekommen. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Issa sich ins Dunkel einer Linde duckte, die Satteltasche in die Falten seines schwarzen Mantels gerafft.
»Was ist los?«
»Ihr KGB«, murmelte er.
»Wo?«
»Sie sind uns vom Taxi aus gefolgt. Erst in einem großen Auto, dann in einem kleinen. Ein Mann, eine Frau.«
»Das waren einfach zwei Autos, die zufällig vorbeigefahren sind.«
»Die Autos hatten Funkgeräte.«
»Das sind keine Funkgeräte, sondern Radios. In Deutschland haben alle Autos ein Radio. Manche haben sogar Telefon. Bitte, Issa. Und nicht so laut. Wir wollen doch nicht die ganze Nachbarschaft aufwecken.«
Nachdem sie forschend die Straße auf und ab geblickt hatte, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken, stieg sie die Eingangsstufen hinauf, schloß die Haustür auf und winkte ihn mit einem Kopfnicken hinein, aber er scheute zur Seite und bestand darauf, ihr im üblichen Abstand zu folgen.
Sie hatte die Wohnung überstürzt verlassen. Das Doppelbett war nicht gemacht, das Kopfkissen zerknüllt, der Schlafanzug achtlos darübergeworfen. In der linken Hälfte des Kleiderschranks hingen ihre Sachen, in der rechten die von Karsten. Obwohl sie ihn schon vor drei Monaten vor die Tür gesetzt hatte, hatte er sich bis heute nicht getraut, sein Zeug zu holen. Oder wollte er sich damit sein Rückkehrrecht sichern? Er konnte sie mal! Eine teure Wildlederjacke, eine Designer-Jeans, drei Hemden, ein Paar weiche Lederslipper. Sie warf alles aufs Bett.
»Gehört das Ihrem Ehemann, Annabel?« erkundigte sich Issa von der Tür her.
»Nein.«
»Wem dann, bitte?«
»Die Sachen haben einem Mann gehört, mit dem ich eine Beziehung hatte.«
»Ist er tot, Annabel?«
»Wir haben uns getrennt.« Langsam bereute sie es, daß sie ihm angeboten hatte, sie beim Vornamen zu nennen, auch wenn alle ihre Mandanten von ihr nur den Vornamen wußten.
»Warum haben Sie sich getrennt, Annabel?«
»Weil wir nicht zueinander gepaßt haben.«
»Warum haben Sie nicht zueinander gepaßt? Haben Sie sich nicht geliebt? Vielleicht waren Sie zu streng mit ihm, Annabel. Das ist möglich. Sie können sehr streng sein. Das habe ich schon bemerkt.«
Im ersten Moment wußte sie nicht, ob sie laut lachen oder ihn zurechtstutzen sollte. Aber als sie ihn irritiert ansah, las sie in seinen Augen Verwirrung, vermischt mit Angst, und sie machte sich klar, daß es in der Welt, aus der er geflohen war, so etwas wie Privatsphäre nicht gab. Gleichzeitig kam ihr ein weiterer Gedanke, der sie zugleich beschämte und beunruhigte: daß sie die erste Frau war, mit der er nach Jahren der Gefangenschaft allein war, und daß sie mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer standen.
»Würden Sie mir bitte die Tasche herunterheben, Issa?«
Während sie einen großen Schritt zurückwich, um Issa Platz zu machen, überlegte sie, daß es vielleicht schlauer gewesen wäre, das Handy in die Anoraktasche zu stecken – aber wen hätte sie im Ernstfall schon anrufen wollen?
Er hob Karstens Reisetasche, die als Staubfänger auf dem Kleiderschrank lag, herunter und stellte sie aufs Bett. Sie stopfte die Sachen hinein und holte ihren zusammengerollten Schlafsack aus dem Schrank in der Diele.
»War er auch Anwalt, wie Sie, Annabel? Der Mann, mit dem Sie eine Beziehung hatten?«
»Es spielt keine Rolle, was er war. Es geht Sie nichts an, und es ist aus und vorbei.«
Inzwischen war sie diejenige, der ein etwas größerer Abstand ganz recht gewesen wäre. In der Küche war er ihr zu groß und zu präsent, sosehr er sich auch bemühte, ihr nicht im Weg herumzustehen. Sie legte eine Mülltüte auf den Tisch und hielt ihm barsch die Lebensmittel hin, damit er sie absegnete: Vollkornbrot, Issa? Ja, Annabel. Grüner Tee? Käse? Probiotischer Joghurt aus dem schrägen Bioladen, wo sie Stammkundin war, obwohl sie mit dem Rad zehn Minuten bis dahin brauchte und der Supermarkt gleich um die Ecke war. Ja, Annabel, ja zu allem.
»Fleisch kann ich Ihnen leider keins mitgeben. Ich esse kein Fleisch.«
Aber was sie eigentlich sagen wollte, war: Hier läuft nichts. Außer daß ich für dich Kopf und Kragen riskiere. Ich bin deine Anwältin, sonst nichts. Mir geht es ums Prinzip, nicht um dich.
Sie
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