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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Scherben. Sie fuhr herum und sah, das Licht im Rücken, zurück ins Zimmer.
    Er stand zwei Meter über ihr auf einer Leiter. Wie ein Standbild aus Sowjetzeiten hielt er in der einen Hand eine große Schere und in der anderen ein Papierflugzeug, das er aus der Rolle Makulaturpapier ausgeschnitten hatte, die unter der Leiter auf dem Boden lag.
    »Eines Tages werde ich ein großer Flugzeugingenieur sein wie Tupolew«, verkündete er, ohne zu ihr hinunterzublicken.
    »Kein Arzt?« rief Annabel nach oben, als ob er ein Selbstmörder wäre, der bei Laune gehalten werden mußte.
    »Arzt auch. Und vielleicht, wenn ich die Zeit habe, Rechtsanwalt. Ich möchte die fünf Vortrefflichkeiten erlernen. Sie kennen die fünf Vortrefflichkeiten? Wenn nicht, sind Sie nicht kultiviert. Ich habe bereits gute Grundkenntnisse in Musik, Literatur und Physik. Wenn Sie vielleicht zum Islam konvertieren, werde ich Sie heiraten und mich Ihrer Bildung annehmen. Das wäre für uns beide eine gute Lösung. Aber Sie dürfen nicht streng sein. Schauen Sie, Annabel.«
    Er verlagerte seinen langen Körper so weit nach vorne, daß es den Gesetzen der Schwerkraft hohnsprach, und legte seinen Papierflieger behutsam in die stehende Luft.
    * * *
    Er ist bloß ein Mandant, sonst nichts, sagte sie sich ärgerlich, als sie die Tür hinter sich zuzog und das betagte Vorhängeschloß zuschnappen ließ.
    Zugegeben, ein Mandant, der einer besonderen Behandlung bedarf. Einer unorthodoxen Behandlung. Einer illegalen Behandlung. Aber trotzdem ein Mandant. Und bald bekommt er auch noch die ärztliche Betreuung, die er braucht.
    Er ist ein Fall. Ein Fall mit einer Akte. Und ein Patient, gut, das auch. Er ist ein geschädigtes und traumatisiertes Kind, das keine Kindheit hatte, und ich bin seine Anwältin und sein Kindermädchen und seine einzige Verbindung zur Welt.
    Er ist ein Kind, aber er weiß mehr über Schmerzen und Gefangenschaft und die Abgründe des Lebens, als ich jemals wissen werde. Er ist arrogant und hilflos, und die meiste Zeit hat das, was er sagt, nichts mit dem zu tun, was er denkt.
    Er will nett zu mir sein, aber er weiß nicht, wie. Er sagt die richtigen Worte, aber er ist der falsche Mann dafür:
    Heirate mich, Annabel. Sieh dir meinen Papierflieger an, Annabel. Konvertiere zum Islam, Annabel. Sei nicht so streng, Annabel. Ich will Rechtsanwalt, Arzt und ein großer Flugzeugingenieur werden und was mir sonst noch einfällt, bevor sie mich nach Schweden zurückverfrachten, um mich in den Gulag zu deportieren, Annabel. Sie verlassen bitte den Raum, Annabel.
    Am Hafen war die Dämmerung dem frühen Morgen gewichen. Sie ging auf dem erhöhten Fußgängerweg neben der Kaimauer. Während ihre neue Wohnung langsam Gestalt annahm, hatte sie hier in den letzten Wochen die Geschäfte ausgekundschaftet, in denen sie einkaufen, die Fischimbisse, in denen sie sich mit ihren Freunden treffen würde, und sich die Routen überlegt, auf denen sie zur Arbeit fahren wollte: den einen Tag die gesamte Strecke mit dem Rad, den nächsten Tag mit dem Rad auf die Fähre, bei der dritten Anlegestelle aussteigen und den Rest radeln. Aber heute morgen konnte sie an nichts denken als an Issas Antwort, als sie ihm sagte, daß sie ihn wieder einschließen müsse.
    »Wenn ich schlafe, erwartet mich so oder so das Gefängnis, Annabel.«
    * * *
    Wieder in ihrer alten Wohnung, ging sie mit der Akribie zu Werke, mit der ihre Familie sie immer aufzog. Sie hatte Angst gehabt und es nicht wahrhaben wollen. Jetzt konnte sie ihren Sieg über die Angst feiern.
    Zuerst gönnte sie sich eine wohlverdiente Dusche und wusch sich die Haare. Die tiefe Erschöpfung, die sie vor einer Stunde gefühlt hatte, war verflogen, und sie steckte voller Tatendrang.
    Nachdem sie geduscht hatte, zog sie sich für eine größere Tour an – knielange Radlerhosen, Turnschuhe, eine leichte Bluse für einen heißen Tag und darüber die Sherpa-Weste – und schnappte sich Helm und Handschuhe vom Bambustischchen neben der Tür. Von körperlicher Betätigung konnte sie nie genug bekommen. Ohne Sport, davon war sie überzeugt, würde sie innerhalb einer Woche aus dem Leim gehen.
    Als nächstes schickte sie eine dringende Rundmail an ihre Handwerker und Lieferanten: Tut mir sehr leid, liebe Leute, aber bis auf weiteres müssen alle Arbeiten in der Wohnung eingestellt werden. Es gibt unerwartete Probleme mit dem Kaufvertrag, die sich in den nächsten Tagen klären werden. Für eventuelle Verdienstausfälle komme ich

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