Marionetten
natürlich auf. Mit bestem Gruß, Annabel Richter. Und auf die Einkaufsliste, die neben ihr lag, kam noch NEUES VORHÄNGE-SCHLOSS, weil nicht jeder seine E-Mails vom Wochenende liest, bevor er am Montag zur Arbeit geht.
Ihr Handy klingelte. Acht Uhr. Schlag acht Uhr an jedem Samstagmorgen, Feiertage inbegriffen, rief Frau Doktor Richter ihre Tochter Annabel an. Sonntags telefonierte sie mit Annabels Schwester Heidi, weil Heidi die Ältere war. Die Familienethik sah nicht vor, daß die Töchter an einem Samstag oder Sonntag – geschweige denn an irgendeinem anderen Morgen – vielleicht ausschlafen oder Sex haben wollten.
Zuerst Mutters Rede zur Lage der Nation. Annabel schmunzelte jetzt schon.
»Das ist jetzt wahrscheinlich sträflich indiskret von mir, aber Heidi glaubt, sie ist wieder schwanger, am Dienstag weiß sie es sicher. Bis dahin ist das Thema tabu, Annabel. Du verstehst?«
»Natürlich, Mutter, und ich freue mich für dich. Schon der vierte Enkel, dabei bist du doch selbst noch ein Kind!«
»Sobald es amtlich ist, darfst du ihr natürlich gratulieren.«
Annabel verzichtete darauf, ihr zu sagen, daß Heidi außer sich war und sich nur auf inständiges Bitten ihres Mannes gegen eine Abtreibung entschieden hatte.
»Und dein Bruder Hugo hat eine Stelle für Humanpsychologie an einer Lehrklinik in Köln angeboten bekommen, aber er ist sich nicht sicher, ob sie da echte Freudianer sind, deshalb könnte es sein, daß er ablehnt. Manchmal ist er einfach nicht zu begreifen.«
»Köln müßte ihm eigentlich gefallen«, sagte Annabel, ohne hinzuzufügen, daß sie im Durchschnitt dreimal die Woche mit Hugo telefonierte und deshalb bestens über seine Pläne informiert war: nämlich in Berlin zu bleiben, bis sich seine heiße Liebesaffäre mit einer zehn Jahre älteren verheirateten Frau entweder totlief oder ihm um die Ohren flog – oder, wie Annabel ihn kannte, beides.
»Und dein Vater wird bei einer Juristentagung in Turin als Hauptredner auftreten. Was bei ihm natürlich heißt, daß er jetzt schon an der Rede sitzt und ich bis September kein Wort mehr aus ihm herausbekommen werde. Hast du dich wieder mit Karsten versöhnt?«
»Wir arbeiten noch daran.«
»Gut.«
Eine kurze Pause.
»Wie waren deine Tests, Mutter?« fragte Annabel.
»Idiotisch wie immer, Herzchen. Wenn mir jemand sagt, daß das Ergebnis negativ ist, bin ich deprimiert, weil ich eine geborene Optimistin bin. Ich muß immer erst um die Ecke denken.«
»Und waren sie negativ?«
»Es gab ein positives Stimmchen, aber die vielen negativen haben es sofort übertönt.«
»Welches war positiv?«
»Die dumme Leber.«
»Hast du es Papa gesagt?«
»Er ist ein Mann, Schatz. Entweder sagt er mir, ich soll noch ein Gläschen trinken, oder er glaubt, daß ich sterbe. So, und jetzt schwing dich auf dein Rad.«
* * *
Und nun zu ihrem Generalplan.
Hugos Leben war, wie immer, ein Balanceakt. Der Ehemann seiner Herzensdame war zwar geschäftlich viel unterwegs, hatte aber die taktlose Angewohnheit, an den Wochenenden nach Hause zu kommen. Folglich schob Hugo samstags und sonntags nachts im Krankenhaus Bereitschaftsdienst und betreute tagsüber seine Patienten. Es kam deshalb darauf an, ihn nach acht Uhr zu erwischen, wenn seine Nachtschicht beendet war, und vor zehn, wenn er mit der Visite begann. Jetzt war es zwanzig nach acht, die ideale Uhrzeit.
Aus Sicherheitsgründen brauchte sie ein öffentliches Telefon und zur Beruhigung ihrer Nerven einen Ort, den sie kannte. Sie entschied sich für das Café im Hirschpark in Blankenese, eine ehemalige Jagdhütte, fünfzehn stramme Fahrradminuten von ihrer Wohnung entfernt. Sie brauchte zwölfeinhalb und mußte sich erst einmal einen Kräutertee bestellen und eine Weile in ihre Tasse starren, bis sie zu Atem kam. Im Gang zu den Toiletten stand eine altmodische englische Telefonzelle. Annabel schwatzte der Frau an der Theke eine Handvoll Münzen ab.
Wie gewöhnlich redeten sie und Hugo halb frotzelnd, halb ernsthaft. Heute frotzelte sie noch mehr als sonst, vielleicht weil die Lage so ernst war.
Ich hab da zur Zeit einen Albtraummandanten, Hugo, begann sie. Hochintelligent, aber ein psychisches Wrack. Spricht nur Russisch.
Er braucht Ruhe und professionelle Betreuung.
Seine persönlichen Lebensumstände sind trostlos, und ich kann am Telefon nicht näher darauf eingehen.
»Du wärst der erste, der finden würde, daß der Mann dringend Hilfe braucht«, sagte sie und hoffte, daß es nicht allzu
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