Marionetten
schleppten das Gepäck zur Kreuzung, wo Annabel ein Taxi anhielt und ein Fahrtziel in der Nähe des Hafens nannte.
Den Rest der Strecke legten sie auch diesmal zu Fuß zurück.
* * *
Zu ihrer neuen Wohnung ging es acht wackelige Treppen hinauf. Sie war im obersten Stockwerk eines alten Hafenspeichers, laut seinem Eigentümer das einzige Gebäude, das die Briten, als sie den Rest von Hamburg in Schutt und Asche legten, netterweise verschont und der Nachwelt erhalten hatten. Der schiffsförmige Loft, vierzehn Meter lang und sechs Meter breit, hatte eiserne Sparren und ein großes Bogenfenster mit Blick auf den Hafen. Unter der einen Dachschräge war ein Bad eingebaut, unter der anderen die Küche. Bei der Besichtigung hatte sich die Hälfte der Hamburger Nachwuchsschickeria dort getummelt, aber der Eigentümer hatte einen Narren an ihr gefressen, und da er, anders als ihr jetziger Vermieter, schwul war, blieben ihr auch die Annäherungsversuche erspart.
Noch am selben Abend wurde das Wunder wahr: der Loft gehörte ihr, und ein Karsten-freies Leben konnte beginnen. Die Wohnung war ihr Hätschelkind. Sechs Wochen ging sie nun schon in den Einzelheiten des Umbaus auf, in den Maurer-, Maler- und Elektroarbeiten, dem Austausch der morschen Dielenbretter, und abends, wenn sie wieder einmal eine empörende Anhörung oder einen verlorenen Kampf gegen die Behörden hinter sich hatte, machte sie mit dem Rad den Abstecher hierher, nur um sich, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, den Sonnenuntergang anzusehen und auf das Gestöber der streitenden Möwen und die tobenden Kinder auf dem Spielplatz hinunterzublicken und auf das elegante Hin und Her der Kräne, Frachter und Fähren, die so miteinander umgingen, wie die Menschen miteinander umgehen sollten, respektvoll und ohne zu kollidieren.
Und obwohl sie wußte, daß dies eine ungebührlich rosige Sicht der Dinge war, gratulierte sie sich zu dem Dasein, das sie von nun an führen würde, dem einer Frau, die mit ihrer Arbeit verheiratet war und deren Familie die Kollegen von Fluchthafen waren, Lisa, Maria, André, Max, Horst und die furchtlose Ursula, ihre Chefin – Männer und Frauen, die sich, wie sie selbst, dem Kampf für das Gute verschrieben hatten, dem Kampf für all jene, die durch die Wechselfälle des Lebens zur Ausschußware deklariert worden waren.
Anders ausgedrückt: Wenn sie am Ende eines harten Tages nach Hause kam, ausgepumpt und so leer wie die Wohnung, die sie erwartete, wußte sie, daß ihre eigene Gesellschaft die einzige war, auf die sie sich am Abend freuen konnte. Aber sogar nichts war besser als Karsten.
* * *
Sie brauchten lange für den Aufstieg. Annabel, die vorausging, stellte auf jeder Etage die Mülltüte mit dem Proviant ab und überzeugte sich, daß der mit Reisetasche und Schlafsack beladene Issa noch mitkam. Sie hätte ihm gern etwas abgenommen, aber sooft sie Anstalten dazu machte, scheuchte er sie wütend weg, obwohl er nach zwei Treppen aussah wie ein altes, dürres Kind und nach der dritten so laut keuchte, daß es im ganzen Treppenhaus widerhallte.
Der Lärm, den sie machten, behagte ihr gar nicht, bis ihr einfiel, daß heute Samstag und sie die einzige Bewohnerin war. Auf allen anderen Etagen waren schicke Büros von Modeschöpfern, Möbeldesignern und Feinkostfirmen untergebracht: Welten, die sie ein für allemal hinter sich gelassen hatte.
Issa war auf der Hälfte der letzten Treppe stehengeblieben und blickte ins Leere, sein Gesicht starr vor Unverständnis und Angst. Die Tür zu ihrem Loft war aus altem gehämmertem Eisen und hatte schwere Riegel. Das riesige Vorhängeschloß hätte die Bastille vor der Erstürmung bewahren können. Sie lief zu ihm hinunter, erwischte diesmal statt des Ärmels den Arm und fühlte ihn zurückzucken.
»Wir sperren Sie nicht ein, Issa«, sagte sie. »Wir wollen nur sicherstellen, daß Sie nicht wieder verhaftet werden.«
»Von Ihrem KGB?«
»Von wem auch immer. Machen Sie einfach, was ich Ihnen sage.«
Stocksteif stand er da und schüttelte nur ganz langsam den Kopf, doch dann senkte er ihn, mit einer Geste der Unterwerfung, die grauenhaft anzusehen war, und folgte ihr Schritt um Schritt die letzten Stufen hinauf, so mühsam, als ob seine Füße aneinandergekettet wären. Oben blieb er wieder stehen, den Kopf noch immer gesenkt und die Füße geschlossen, und wartete darauf, daß sie die Tür aufsperrte. Aber ihre Intuition verbot es ihr.
»Issa?«
Keine Reaktion. Sie streckte die
Weitere Kostenlose Bücher