Marionetten
freier Mann, der im Westen lebt und sich seine kühnsten Hoffnungen und Träume erfüllen kann. Und wenn nicht, wenn Allah nicht liefert oder Sie nicht liefern, tja, dann heißt’s tschüs, Issa, ab mit dir dahin, wo du hergekommen bist. Es sei denn, die Amerikaner geben ein Gebot auf ihn ab. Und dann weiß hier niemand mehr, wo er ist. Er selber im Zweifel auch nicht.«
»Wir möchten das tun, was für ihn das Beste ist, Frau Richter«, sagte Erna Frey in einem solchen Brustton der Überzeugung, daß Annabel ihr einen Moment lang fast glauben wollte. »Günther sieht das auch so, er drückt es nur nicht so gut aus. Wir halten Issa nicht für einen schlechten Menschen. So ein Urteil würden wir niemals über ihn fällen. Und wir wissen, daß er ein bißchen schrullig ist, ich meine, wer ist das nicht? Trotzdem denken wir, daß er uns dabei helfen könnte, ein paar sehr schlechten Menschen das Handwerk zu legen.«
Annabel versuchte zu lachen. »Als Spion, oder wie? Issa? Sie müssen verrückt sein! Sie sind mindestens so krank wie er!«
»Scheißegal als was«, erklärte Bachmann gereizt. »In dem Stück, das wir hier aufführen, sind die Rollen noch nicht geschrieben. Ihre inbegriffen. Fest steht nur: wenn Sie mitspielen und die Sache so läuft, wie sie soll, retten wir zusammen hundertmal mehr Unschuldigen das Leben als Sie mit Ihrer Karnickelfütterei in Ihrem verdammten Fluchthafen!«
Und er griff wieder nach dem Scheck und stand ungeduldig vom Tisch auf. »Und deshalb will ich jetzt endlich wissen: was zum Teufel treibt einen russischsprechenden, mäßig erfolgreichen britischen Bankier mit ehemaligem Geschäftssitz in Wien dazu, seinen Freitagabend zu opfern, um Herrn Issa Karpow seine Aufwartung zu machen? Wollen wir irgendwo Menschenwürdigeres hingehen, oder bleiben Sie lieber hier am Tisch hocken und schmollen?«
Doch Erna Frey fand sanftere Worte: »Wir werden Ihnen nicht die ganze Wahrheit sagen, Frau Richter, das dürfen wir nicht. Aber wir sagen Ihnen nichts, was nicht wahr ist.«
* * *
Mitternacht war lange vorüber, und sie hatte noch nicht geweint.
Sie hatte ihnen alles erzählt, was sie wußte, mutmaßte, ahnte, erriet, jeden winzigsten Rest, aber geweint hatte sie nicht, ja sich nicht einmal beschwert. Wie kam es, daß sie so schnell die Seiten gewechselt hatte? Was war mit der Rebellin in ihr passiert – mit ihrem Widerspruchsgeist und ihrer vielgerühmten Schlagfertigkeit, die ihr im Familienforum so gute Dienste geleistet hatten? Warum hatte sie nicht ein Lügennetz gesponnen wie am Morgen für Herrn Werner? War das schon das Stockholm-Syndrom? Sie mußte an ein Pony denken, das sie einmal gehabt hatte, Moritz. Moritz war ein Outlaw. Niemand konnte ihn zähmen, niemand konnte ihn zureiten. In ganz Baden gab es keine Familie, die bereit war, ihn zu nehmen – bis Annabel von ihm hörte und ihren Eltern ihre Macht demonstrierte, indem sie bei ihren Klassenkameraden Geld sammelte und ihn auf eigene Faust kaufte. Als Moritz kam, trat er den Stallknecht, keilte so lange aus, bis die Tür seiner Box nachgab, und brach in die Koppel ein. Aber als Annabel sich ihm am nächsten Morgen reichlich verzagt näherte, trabte er zu ihr hin, senkte den Kopf, damit sie ihm das Halfter überstreifen konnte, und war von da an lammfromm. Er hatte die Nase voll vom Aufmüpfigsein und brauchte jemanden, der das Heft in die Hand nahm.
War es bei ihr nun das gleiche? Hatte sie das Handtuch geworfen und gesagt, verdammt, dann macht doch mit mir, was ihr wollt – so wie sie es schon zu manchen Männern gesagt hatte, wenn die dumpfe Unbeirrtheit ihrer Avancen sie in blindwütige Unterwerfung getrieben hatte?
Nein. Der Teufel steckte in der Logik, davon war sie überzeugt; in der gewollten Unparteilichkeit, mit der die Juristin in ihr einen Schritt zurücktrat und erkannte, daß sie nicht den Hauch eines Arguments ins Feld führen konnte, weder für die Sache ihres Mandanten noch für ihre eigene, obwohl ihre eigene Sache das letzte war, worum es ihr ging. Die ausgekochte Anwältin in ihr war es – von dieser Gewißheit mochte sie nicht abrücken –, die ihr sagte, daß ihre einzige Chance darin bestand, sich der Gnade des Gerichts auszuliefern: sprich, der ihrer Häscher.
Ja, sie war mit den Nerven am Ende. Wie denn auch nicht? Und ja, die Anstrengung, mutterseelenallein mit der Bürde eines so ungeheuren Geheimnisses fertig werden zu müssen, hatte ihre Kräfte bis aufs äußerste strapaziert. Und
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