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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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natürlich war es eine Erleichterung, geradezu eine Wohltat, wieder zum Kind werden zu dürfen und die großen Lebensentscheidungen Menschen zu überlassen, die älter und weiser waren als sie, Annabel. Aber selbst wenn sie all diese Faktoren in die Waagschale warf, das versicherte sie sich wieder und wieder, war es immer noch die Anwaltslogik, die sie dazu bewogen hatte, sich alles von der Seele zu reden.
    Sie hatte von Brue und von Herrn Lipizzaner erzählt, von dem Schlüssel und Anatolijs Brief, von Issa und Magomed und wieder von Brue: wie er aussah, wie er sprach, seine Reaktion in dieser Situation und in jener, im Hotel Atlantic, in dem Döner-Lokal, von dem sie weitergegangen waren zu den Oktays. Und wie war das gleich wieder mit seinem Studium in Paris? Und diese Riesensumme, die er ihr plötzlich gegeben hatte: warum? Hat er gehofft, damit kann er Sie rumkriegen? – letztere Frage von Erna Frey, nicht von Bachmann. Er war zu anfällig, was hübsche Frauen betraf.
    Doch dies war kein Geständnis, das man ihr mit Finten, Drohungen oder Versprechungen abpreßte. Nein, dies war ein hemmungsloses Sichgehenlassen: ein kathartisches Hervorsprudeln von Wissen und Emotionen, die sich zu lange in ihr angestaut hatten, ein Niederreißen sämtlicher Schutzwälle, die sie in ihrem Innern errichtet hatte: gegen Issa, Hugo, Ursula, gegen die Klempner und Maler und Elektriker und allen voran gegen sich selbst.
    Und sie hatten ja recht: ihr blieb keine Wahl. Wie Moritz war sie erschöpft vom vielen Aufbegehren. Wenn Issa gerettet werden sollte, brauchte sie Freunde und nicht Feinde – ob sie nun wahrhaftig anders als die anderen waren oder nur so taten als ob.
    Ein schmaler Korridor führte zu einem winzigen Schlafraum. Das Doppelbett war frisch bezogen. Annabel, so müde, daß sie im Stehen hätte einschlafen können, sah umher, während Erna Frey ihr zeigte, wie die Dusche funktionierte, und mit mißbilligendem Zungenschnalzen schmutzige Handtücher wegraffte und aus einer Schublade frische holte.
    »Wo schlafen denn Sie beide?« fragte Annabel, ohne recht zu wissen, warum sie das kümmern sollte.
    »Machen Sie sich wegen uns keine Sorgen, Kindchen. Schlafen Sie sich einfach aus. Sie haben einen harten Tag hinter sich, und morgen wird ganz genauso hart.«
    Wenn ich schlafe, erwartet mich so oder so das Gefängnis, Annabel.
    * * *
    Tommy Brue war nicht im Gefängnis, allerdings schlief er auch nicht.
    Um vier Uhr morgens hatte er sich aus dem Ehebett gestohlen und war barfuß hinuntergeschlichen ins Arbeitszimmer, wo sein Adreßbuch lag. Unter Georgie waren sechs Nummern eingetragen. Fünf waren durchgestrichen. Neben der sechsten hatte er »Handy K.« vermerkt. Das K stand für Kevin, die letzte Nummer, die er von ihr hatte. Drei Monate war es her, daß er sie zum letztenmal gewählt hatte, und noch weit länger, seit er es das letzte Mal an Kevin vorbeigeschafft hatte. Aber diesmal stimmte etwas ganz und gar nicht mit ihr, er wußte es. Und das hatte nichts mit »Vorahnungen« zu tun, nichts mit »Panik«. Es war die Angst eines Vaters um sein Kind, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
    Er tippte die Nummer von Kevins Handy in sein eigenes ein, damit an dem Apparat neben Mitzis Bett kein verräterisches Lämpchen aufleuchtete, schloß die Augen und wartete auf die schlaffe, gedehnte Stimme, die ihm gleich mitteilen würde, sorry, Tommy, aber Georgie hat momentan keinen Bock, mit Ihnen zu reden, doch, ihr geht’s gut, ihr geht’s super, sie ist bloß gerade nicht so drauf, irgendwie. Aber diesmal würde er sich nicht abwimmeln lassen. Er würde auf seinen Vaterrechten bestehen, nicht daß er welche besaß. Ein Schwall von Rockmusik bestärkte ihn noch in seinem Vorsatz. Desgleichen Kevins Stimme von der Mailbox, die ihm sagte, yeah, wenn’s unbedingt sein muß, sprecht mir was drauf, aber mit Abhören haben wir’s hier nicht so, also legt lieber auf, Leute, und probiert’s später noch mal – bis die Ansage ihrerseits von einer Frauenstimme unterbrochen wurde.
    »Georgie?«
    »Wer ist da?«
    »Bist du das, Georgie?«
    »Klar bin ich’s, Dad. Kennst du meine Stimme nicht mehr?«
    »Ich wußte bloß nicht, daß du an Kevins Handy gehst. Ich hab nicht damit gerechnet. Wie geht es dir, Georgie? Ist alles in Ordnung bei dir?«
    »Mir geht’s prima. Ist irgendwas passiert? Du klingst furchtbar. Was macht die neue Mrs. Brue? Gott, wie spät ist es eigentlich bei euch? Dad?«
    Er hielt das Telefon ein Stück von sich

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