Marionetten

weg, während er die Fassung zurückzugewinnen versuchte. Die neue Mrs. Brue, acht Jahre neu. Nie Mitzi.
    »Nein, es ist nichts passiert, Georgie. Alles bestens. Sie schläft. Ich habe mir nur aus irgendeinem Grund plötzlich fürchterliche Sorgen um dich gemacht. Aber dir geht’s gut. Dir geht’s mehr als gut, das höre ich. Ich bin letzte Woche sechzig geworden. Georgie?«
    Provozieren Sie sie nicht, hatte sein verhaßter Psychiater in Wien immer gesagt. Wenn sie in Schweigen abtaucht, warten Sie, bis sie von sich aus zurückkommt.
    »Du hast aber grade echt komisch geklungen, Dad«, beschwerte sie sich, als würden sie täglich miteinander telefonieren. »Ich dachte, du wärst Kevin, der aus dem Supermarkt anruft, aber du warst du. Das hat mich echt umgehauen.«
    »Ich wußte gar nicht, daß ihr Supermärkte benutzt. Was kauft er denn?«
    »Den ganzen Laden. Er ist übergeschnappt. Ich meine, ein Vierzigjähriger, der seit zehn Jahren von nichts als Pinienkernen lebt und für den das Kinderkriegen bis jetzt immer der absolute Super-GAU war! Und plötzlich gibt es für ihn nur noch Wickelunterlagen, Strampelanzüge mit Hasenohren, rüschenbesetzte Wiegen, Kinderwägen mit eingebauter Sonnenblende! Warst du auch so, als Mum schwanger geworden ist? Und ich bin dann diejenige, die ihm sagen darf, Mann, wir sind pleite, du mußt den ganzen Krempel zurückbringen!«
    »Georgie?«
    »Ja?«
    »Das ist ja wunderbar. Das ist phantastisch. Ich hatte keine Ahnung!«
    »Ich bis vor ungefähr fünf Minuten auch nicht.«
    »Wann ist es denn soweit? – falls du es mir sagen möchtest.«
    »Erst in fünfzig Jahren oder so. Der Hammer, oder? Und Kevin führt sich jetzt schon auf wie ein schwangerer Vater. Er will mich sogar heiraten, jetzt wo sein Buch angenommen worden ist.«
    »Sein Buch? Ich wußte gar nicht, daß er eins schreibt.«
    »Es ist ein Ratgeber. Bewußtsein, Ernährung und Meditation.«
    »Phantastisch!«
    »Und herzlichen Glückwunsch nachträglich, okay? Komm uns mal besuchen. Ich hab dich lieb, Dad. Es wird übrigens ein Mädchen. Sagt Kevin.«
    »Kann ich euch Geld schicken. Euch ein bißchen unter die Arme greifen? Für das Baby? Kleiner Zuschuß zur Rüschenwiege?« Er war drauf und dran, fünfzigtausend Euro vorzuschlagen, aber er riß sich am Riemen und wartete, bis sie von sich aus zurückkam.
    »Bißchen später vielleicht. Ich rede mit Kevin und ruf dich dann an. Zuschuß zur Rüschen wiege ist wahrscheinlich okay. Bloß eben nicht die Geld-statt-Liebe-Tour. Sagst du mir noch mal deine Nummer?«
    Zum neunzehnten oder neunzigsten Mal in den letzten zehn Jahren diktierte Brue ihr seine Nummern: Handy daheim, die Durchwahl in der Bank. Hatte sie sie aufgeschrieben? Diesmal vielleicht ja.
    Er schenkte sich einen Scotch ein. Wunderbare, unglaubliche Neuigkeiten. Zu schön, um wahr zu sein.
    Schade nur, daß Annabel ihm nicht auch noch bestätigen konnte, daß es ihr gutging. Denn es war die Sorge um Annabel, nicht um Georgie, das begriff er nachträglich, die ihn mit Herzklopfen aus dem Schlaf hatte schrecken und nach unten schleichen lassen.
    Sein verhaßter Wiener Psychiater hätte es vermutlich einen Fall von irregeleiteter Paranoia genannt.
    * * *
    Dieses Treppenhaus ist die reinste Zumutung.
    Hier eine Wohnung zu kaufen: eine Idiotie!
    Überall diese gemeingefährlichen kleinen Nischen und Spitzkehren und Halbabsätze: ich könnte mir das Genick brechen.
    Dieser Rucksack wiegt eine Tonne. Was haben wir da bloß alles reingepackt?
    Die Riemen schneiden in meine Schultern wie Drähte.
    Noch eine Treppe, dann bin ich da.
    Sie hatte geschlafen. Nach zwei Nächten am Stück, die sie in ihrer Wohnung hellwach an die Decke gestarrt hatte, plötzlich ein tiefer, traumloser Kinderschlaf.
    »Issa wird hochzufrieden mit Ihnen sein«, hatte ihr Erna Frey versichert, die sie mit einer Tasse Kaffee geweckt und sich zu ihr auf die Bettkante gesetzt hatte. »Sie bringen ihm genau die Nachricht, auf die er gehofft hat. Plus ein fürstliches Frühstück.«
    Und das gleiche hatte sie noch einmal in den Rückspiegel gesagt, während Annabel hinten im Laderaum kauerte, neben sich ihr Fahrrad, mit dem sie gleich das letzte Stück Straße zum Hafen hinuntersausen würde. »Denken Sie daran: Sie tun nichts im mindesten Betrügerisches oder Unehrliches. Sie bringen ihm Hoffnung, und er vertraut Ihnen. Ich habe den Joghurt ganz zuoberst eingepackt. Ihre Schlüssel sind in Ihrer rechten Anoraktasche. Sind Sie startklar? Dann ab