Marissa Blumenthal 02 - Trauma
kleinen Wandtafel, die in Cyrills Zimmer hing. Mit einem Stück Kreide schrieb sie darauf die Zahl 600.000. »Das ist die Zahl der Ehepaare in den USA, die nach Schätzung von Experten IVF-Behandlung benötigen, wenn sie ein Kind bekommen wollen, das genetisch ihr eigenes ist. Wenn wir 50.000 Dollar mit dieser Zahl multiplizieren, kommen wir auf 30 Milliarden. Milliarden! Nicht 30 Millionen, sondern 30 Milliarden. Und das allein in den Vereinigten Staaten. Als Geldquelle könnte IVF der illegalen Drogenindustrie Konkurrenz machen. Zugegeben, nicht alle der 600.000 Ehepaare stammen aus dem Mittelstand, und nicht alle haben das nötige Geld zur Verfügung. Darum hat das FCA ja alle diese Anstrengungen unternommen, um sich selber einen Markt zu schaffen.«
»Mein Gott!« rief Cyrill. »Ich habe mir ja nie vorgestellt, daß es um so viel Geld ging.«
»Daran denken die wenigsten«, sagte Marissa. »Die ganze IVFIndustrie arbeitet ohne bindende Vorschriften und ohne Aufsicht. Sie ist in einem Niemandsland zwischen Medizin und Geschäft entstanden. Und die Regierung hat beide Augen zugedrückt. Alles, was mit Fortpflanzung zu tun hat, ist politisch ein heikles Gebiet.«
»Aber eine solche Verschwörung würde viele Mitwisser erfordern.«
»Gar nicht mal so viele«, sagte Marissa. »Vielleicht in jeder Klinik nur einen. Doch in dieser Hinsicht wage ich keinen Schluß auf das wirkliche Organisationsschema der Verschwörung.«
»Und ich war fest überzeugt, daß Rauschgift dahintersteckt«, sagte Tristan.
»Kann durchaus sein, daß sie auch am Rauschgifthandel beteiligt waren, aber nur indirekt«, sagte Marissa. »Es wird interessant sein, genau zu erfahren, wie Fertility Limited das gewaltige Kapital aufgebracht hat, das nötig war, um so rasch in drei Kontinenten zu expandieren. Ich habe den Verdacht, daß ihre Aktienangebote nur ein gerissener Trick waren. Es wäre keine Überraschung für mich, wenn sie sich mit den Wing Sin noch bei anderen Unternehmen verbündet hätten als dem des Herausschmuggelns von je zwei Männern aus der Volksrepublik China. Vielleicht diente Fertility Limited als Geldwaschanlage für die Gewinne der Wing Sin aus dem Heroinschmuggel vom Goldenen Dreieck. Zumindest ist das eine Möglichkeit.«
»Wenn das alles zutrifft«, sagte Cyrill, »braucht es großer Anstrengungen und internationaler Zusammenarbeit, um den Ring zu sprengen.«
»Genau«, sagte Marissa. »Und hier muß das CDC aktiv werden. Man sollte zugleich das Justizund das Außenministerium benachrichtigen. Nur sie können gemeinsam diese Organisation zerschlagen, und auf das CDC werden sie wohl hören. Ich sage euch voraus, daß es nicht einfach sein wird. Eine Organisation, die so groß und reich ist wie Fertility Limited und ihre Tochterfirmen, hat natürlich auch beträchtliches politisches Gewicht.«
»Da es sich hier in den USA um ein überstaatliches Problem handelt«, sagte Cyrill, »muß auch der FBI eingeschaltet werden.«
»Zweifellos«, bestätigte Marissa. »Und dafür können wir nur Gott danken, denn Tristan und ich brauchen bestimmt für einige Zeit staatlichen Schutz. Vielleicht müssen wir uns auch irgendwo versteckt halten. Ich fürchte, daß der Arm der Wing Sin weltweit reicht.«
Cyrill sprang auf. »Ich muß nach oben«, sagte er. »Mal sehen, ob ich den Direktor noch antreffe, bevor er Feierabend macht. Es macht euch beiden doch nichts aus, wenn ihr hier ein paar Minuten wartet?« Als Cyrill draußen war, sah Marissa Tristan fest an. »Was meinst
du dazu?« fragte sie. »Ganz ehrlich!«
»Ehrlich?« sagte Tristan. »Für mich bist du eine rattenscharfe Wuchtbrumme, die aber bald fix und foxi ist.«
»Bitte, Tristan«, sagte Marissa. »Ich meine es ernst. Laß den Aussie-Slang und sprich englisch!«
»Ich meine es ja auch ernst«, sagte Tristan. »Ich meine, du bist eine schöne Frau, aber bald mit deinen Kräften am Ende. Du bist wunderbar, fast ein bißchen zum Fürchten. Und obendrein glaube ich, daß du recht hast. Übrigens kann ich mir niemand vorstellen, mit dem ich mich lieber in ein Versteck verziehen würde, als dich.«
Epilog
22. November 1990
11.55 Uhr vormittags
»Was steht da drüben auf dem Straßenschild?« fragte Tristan und zeigte nach vorn. Er saß am Lenkrad eines Hertz-Mietwagens und Marissa neben ihm.
»Ich weiß es nicht«, sagte Marissa seufzend. »Ich kann das Schild von hier aus gar nicht sehen. Es steht ein Baum davor. Du mußt ein Stückchen
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